nd-aktuell.de / 25.04.2016 / Politik / Seite 14

»... frisch wie der abgelegene Winkel eines hellen Tales«

Der Belgier Henry van de Velde schuf einst sein Haus in Weimar als Gesamtkunstwerk - jetzt kann man es als solches wieder erleben

Doris Weilandt, Weimar
Nach umfangreicher Rekonstruktion ist das Weimarer Wohnhaus des bedeutenden Jugendstil-Architekten und Designers Henry van de Velde wieder als Gesamtkunstwerk zu besichtigen. Ein Besuch lohnt sich.

»Jeder Gedanke, als der der Nützlichkeit und des Zweckes, wird gefährlich.« Diesen Satz formulierte der belgische Künstler Henry van de Velde zu Beginn des 20. Jahrhunderts. 1902 kam der Architekt und Designer als künstlerischer Berater für Industrie und Kunsthandwerk ins thüringische Weimar - als radikaler Erneuerer, der der Gründerzeit einen eigenen Stil entgegensetzte. Die Rückbesinnung auf das Einfache, auf die Schönheit der Linie stand im Zentrum seiner Gestaltungslehre, die alle Lebensbereiche umfasste.

Van de Velde (1863-1957) berief sich dabei auch auf die Vergangenheit und verwendete das Wort Renaissance für den Aufbruch in eine moderne Formensprache. Eine Wiedergeburt, die ihre Vorbilder in der englischen »Arts and Crafts«-Bewegung gefunden hatte.

Der Start im höfischen Weimar war nicht einfach. Nach mehreren Projekten, die nicht genehmigt wurden, konnte der Universalkünstler mit dem Bau der Großherzoglichen Kunstgewerbeschule endlich seine Gestaltungsideen als Architekt umsetzen. Kurz danach begann er mit den Plänen für ein eigenes Wohnhaus, das er 1908 mit seiner Frau und fünf Kindern bezog.

Diese Villa mit dem Namen »Haus unter den Hohen Pappeln« lag damals vor den Toren der Klassikerstadt an der Allee zum Schloss Belvedere, der Sommerresidenz der Weimarer Herzöge. Van de Velde begriff das Wohnhaus als Gesamtkunstwerk, als allumfassendes Gestaltungskonzept, das bis in das kleinste Detail durchgestaltet werden musste. Tapete, Möbel, Lampen oder Türgriffe - nichts wurde dem Zufall überlassen.

Den skulptural aufgefassten Baukörper entwickelte van de Velde von innen nach außen. Schon von weitem fallen die markanten Schornsteine auf, die sich über das tief heruntergezogene Walmdach erheben. Auch heute noch wirkt das Haus wie ein Rückzugsort, den der Lärm der Stadt nicht erreichen kann und der nun wieder ganz im Geiste seines Schöpfers erlebt werden kann.

Mit detektivischem Spürsinn gelang es der Klassik-Stiftung, die erst seit 2013 im Besitz der Immobilie ist, das Arbeitszimmer zu rekonstruieren. Wer als Besucher in den Raum tritt, gewinnt einen lebendigen Eindruck vom komplexen Anspruch des Künstlers. In den umlaufenden Einbauregalen aus Teakholz finden sich Werke befreundeter Dichter wie André Gide oder Kunsthistoriker wie Julius Meier-Graefe und Harry Graf Kessler. Auf den integrierten Schreibtischen liegt Korrespondenz, um die sich van de Velde täglich kümmerte.

Die meisten Möbel wurden aufwendig nachgebaut. Es gelang aber auch, Originale zu erwerben. Dazu gehört das Stehpult, von dem Elisabeth Förster-Nietzsche so begeistert war, dass sie es für Vortragsabende auslieh. Die Schwester des Philosophen hatte bereits 1902 das Nietzsche-Archiv von van de Velde ausbauen lassen - der erste Auftrag von Bedeutung in Weimar.

Vom Arbeitszimmer gelangt man durch eine Doppeltür in den Salon des Hauses, den eigentlichen Mittelpunkt. Die Familie nutzte ihn als Gesellschaftszimmer für Lesungen, Soireen und Vorträge. Durch die Verbindung zum Speisezimmer gewinnt der Raum noch an Tiefe.

»Die Möbel unseres Hauses wirken auf mich völlig unverstaubt, durchaus nicht überladen, frisch wie der abgelegene Winkel eines hellen Tales«, schreibt van de Velde über die eigenen Entwürfe, die manche Raffinesse aufweisen. Der Speisezimmertisch hatte in der Mitte eine Erhöhung mit eingelassenen Keramikplatten, die Untersetzer überflüssig machte. Die heutige Ausstattung besteht zum Teil aus den Möbeln, die der Künstler für Baron von Münchhausen, einer in Weimar ansässigen Adelsfamilie, kreierte. Von diesem lichtdurchfluteten Raum führt eine Tür über die umgebende Terrasse in den Garten.

Es gibt kaum ein anderes Gebäude, in dem der Besucher dem Meister so nahe sein kann wie in dessen Weimarer Wohnhaus. Van de Velde lebte in Weimar bis 1917, im ausländerfeindlichen Klima des Ersten Weltkriegs verließ die Familie die Stadt und verkaufte das Haus.

»Haus unter den Hohen Pappeln« Belvederer Allee 58, Weimar, Dienstag bis Sonntag 11 bis 17 Uhr