Leere, Müdigkeit, Rituale

Theatertreffen: »Tyrannis« vom Staatstheater Kassel enttäuscht mit losgelöstem und sinnfreiem Spiel

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.
Leerlaufender Alltag ist Terror, wie auch Theater, dem nichts einfällt. »Tyrannis« vom Staatstheater Kassel ermüdet auf dem Berliner Theatertreffen mit epigonalen ästhetischen Formspielen. Dem Stück fehlt jede existenzielle Wucht.

Sagen wir zuerst, was es hätte sein können: ein Stück über das Unheimliche, wie es uns anfällt, wenn plötzlich das Licht ausgeht und im Dunkeln nicht definierbare Geräusche nach uns greifen, Schreie vor allem. Ist es ein Tier oder ein Mensch? Es nicht zu wissen, steigert die Angst.

»Tyrannis« ist ein nervenaufreibendes Stück: im besten Falle, weil es die leerlaufende Rituale unseres immer gleichen Alltags eins zu eins abbildet. Wie sinnlos kreist doch dieses Rad, das wir selbst antreiben! Aufstehen, anziehen, zähneputzen, essen, etwas alibi-mäßig vortäuschen, das Sinn hat, und wieder schlafen. Gottfried Benn schrieb in seinem berühmten »Melancholie«-Gedicht: »Und vom Rasieren wieder schon so müd.« Das ist unvergleichlich gut gesagt.

Dies jedoch ist eine Uraufführung, für deren »Stückentwicklung« und Regie am Staatstheater Kassel Ersan Mondtag verantwortlich zeigt. Autor des Stücks kann er wohl allein darum schon nicht genannt werden, weil an diesem unendlich langen und zähen Abend, an dessen Ende man erstaunt ist, dass er »nur« zwei Stunden gedauert haben soll, kein einziges Wort gesprochen wird. Dafür gibt es eingespielte Geräusche, darunter alltägliche wie das Klappern von Geschirr und das Gurgeln des kollektiv zelebrierten Zähneputzens. Aber auch den aufjaulenden Sound von sogenannten Splatterfilmen, die zum Schein alles in Blut tauchen. Wann kommt denn endlich das »Kettensägenmassaker« und wo geht der Oberzombie eigentlich nachts mit seiner Axt hin? Wissen wir nicht, aber sollten wir das überhaupt wissen wollen? Alles falsche Erwartungen, die sich folgenlos verlaufen wie alles in der Warenwelt, in der jeder zu jeder Zeit findet, wonach ihm gelüstet, nur eines nicht, die Wahrheit inmitten der allgegenwärtigen Manipulation. Das wäre doch schon mal ein Ansatz.

Zumal die Bewohner des uns hier vorgestellten Hauses im Wald alle wie Untote oder mechanische Puppen über die Videoschirme und dann auch mal quer über die Bühne, die ein niedriger Guckkasten ist, schlurfen. Ja unser unechtes, höchst entfremdetes Verhältnis zur eigenen Natur! Das Einzige, was hier penetrant echt ist, sind die Bratengerüche, der am Herd wie ferngesteuert hantierenden Hausfrau. Das macht hier auf der Seitenbühne im Haus der Festspiele das, was ohnehin knapp ist, noch knapper: Sauerstoff!

Schnell haben wir verstanden, das hier eigentlich nichts passiert und das - höhere Ironie - jedoch beständig im dräuenden Gestus eines Horrorfilms. Auf den drei großen Monitoren sehen wir Zimmer des Hauses, in dem Menschen schlafen, einen leeren Flur, ab und zu wird eines dieser undefinierbaren Urwald-Geräusche eingestreut, fertig ist der »postdramatisch« daherkommende Abend. Ist das nun die uns samt Borniertheit unterstellte Langeweile in kritischer Absicht gespiegelt, oder aber von jener offensiv durchexerzierten Sinnlosigkeit, die immer die negativste Form von Freiheit ist, die sich jemand nimmt? Eine dicke Frau, die ein Kostüm trägt, das Nacktheit vorstellt, springt wie ein übergewichtiges Rumpelstilzchen im Kreis, dazu dröhnt es wellblechern. Nun gut, das gibt zu Assoziationen reichlich Anlass, das jedoch in aller Beliebigkeit. Klar ist, leerlaufender Alltag ist Terror, wie auch Theater, dem nichts einfällt.

Ja, die Sache wirkt ausgeklügelt wie aus einem Oberseminar Theaterwissenschaft in die Theaterwelt entlaufen. Muss es auch geben, aber was hat das beim Theatertreffen der vorgeblich stärksten deutschsprachigen Inszenierungen zu suchen? Vielleicht ist es diese gewaltsame Volte: Inmitten der immer gleichen hölzernen Rituale erscheint plötzlich das Bild einer schönen jungen Frau mit dunkler Hautfarbe vor der Glastür des Hauses zum Birkenwald hin. Da fällt der älteste der Hauszombies wie tot um. Die anderen spielen bemühtes Erschrecken. Aha, unsere erste Begegnung mit dem Fremden, die uns unheimlich ist!

Unheimlich ist mir eher die Naivität dieses hausbackenen Abends, bei dem man sich schließlich die sich unendlich hinziehende Zeit damit vertreibt, die Fremd-Fragmente dessen, was vorgeführt wird, auseinander zu sortieren: Vor allem ist da Susanne Kennedys penetrante Verfremdungsmanier erkennbar (ab Jahr eins nach Castorf wird sie uns als Hausregisseurin der Volksbühne mit dieser Mode traktieren). Sie hat sich darauf spezialisiert, in ihren Inszenierungen Personen gleichsam auseinanderzunehmen, etwa Gestalt und Stimme zu trennen (die dann zumeist per Lautsprecher eingespielt wird), so dass wir lauter mechanische Puppen zu sehen glauben. Auch der Einfluss der begehbaren multimedialen Welten von Katie Mitchell ist jederzeit spürbar. Dann ist da natürlich ein Schuss des apokalyptischen Unsinns eines Herbert Fritsch (allerdings ohne dessen souveräne Fröhlichkeit) und auch Christoph Marthalers Spiel mit der leeren Zeit schleicht sich ein. Also alles, was angesagt ist im derzeitigen Theaterbetrieb, ist drin - und doch wird kein Original draus.

Aber was will Ersan Mondtag? Keine Ahnung, was ihn treibt, außer dem Drang, etwas zu fabrizieren, was auf der Konjunkturwelle des Theater schwimmt. Losgelöstes sinnfreies Spiel mit einer simplen moralischen Pointe - mein Gott! Dies markiert zweifellos einen neuen Tiefstand des ohnehin kaum mehr wirkliche Entdeckungen präsentierenden Berliner Theatertreffens.

Was mich angesichts dieser penetranten Belanglosigkeitsflut interessieren würde: Hat sich auch nur ein Mitglied der Theatertreffen-Jury an eines der starken Osttheater wie Dresden oder Leipzig verirrt? In Leipzig etwa gab es in der letzten Spielzeit staunenswerte Dinge zu sehen: Einen avantgardistisch-wuchtiger »Baal« von Nuran David Calis etwa, oder die Doppelinszenierung von »Die Schutzflehenden / Die Schutzbefohlenen« von Enrico Lübbe oder aber »Metropolis« von Claudia Bauer.

Dagegen ermüden solche epigonalen ästhetischen Formspiele wie »Tyrannis« nur, denen jede existenzielle Wucht fehlt.

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