nd-aktuell.de / 13.05.2016 / Politik / Seite 2

Die Linke braucht einen »brasilianischen Frühling«

Amtsenthebungsverfahren verschärft die Krise der Gesellschaft und stellt demokratische Errungenschaften infrage

Gerhard Dilger, São Paulo
Die Suspendierung der Präsidentin Dilma Rousseff ist ein schwerer Schlag für die PT. Sie ist vor allem am wiederhergestellten Bündnis der alten Eliten gescheitert, aber auch an eigenen Fehlern.

Mit der vorläufigen Amtsenthebung von Dilma Rousseff hat die Krise der Arbeiterpartei einen neuen Höhepunkt erreicht. Geradezu tragisch ist die Tatsache, dass sich die PT in der größten Krise ihrer Geschichte befindet, obwohl sie eine nach europäischen Maßstäben traditionelle sozialdemokratische Politik des Klassenausgleichs versuchte – ganz anders als etwa Hugo Chávez in Venezuela oder selbst die Kirchners in Argentinien. Nach Parteichef Lulas zweiter verlorener Wahl 1994 wurde die unkonventionelle Linkspartei der 80er Jahre gezielt zu einer ganz normalen Wahlkampfmaschine umgebaut.

Vor seinem strahlenden Wahlsieg 2002 gelobte Lula unter Druck gegen über dem IWF und den Finanzmärkten die Einhaltung geltender Verträge. Statt die Aufbruchsstimmung Anfang 2003 dazu zu nutzen, beherzt Strukturreformen anzugehen, entschied sich Lula für einen konservativen wirtschaftspolitischen Kurs. Der Rohstoffreichtum wurde etwas gerechter verteilt, aber die Reichen mussten nichts abgeben. Die PT sei wie die rechtsliberale PSDB eine Partei des Zentrums geworden, bürokratisiert, verbürgerlicht und »früh gealtert«, kritisierte der Soziologe Francisco de Oliveira bereits Ende 2003.

Den Korruptionsskandal »mensalão«, bei dem Lulas Präsidialamtsminister José Dirceu monatliche Zahlungen an konservative ParlamentarierInnen organisierte, saß der Präsident aus, eine Rückbesinnung der PT auf die hohen moralischen Standards, die sie als Oppositionspartei proklamiert hatte, unterband er. Und all das trotz eines klassischen Lula-Zitats aus dem Jahr 1993, als er über »300 Gauner« im Kongress klagte, die »nur ihre eigenen Interessen« verteidigten. Anstatt in Zeiten eigener Stärke eine Reform des politischen Systems – angefangen bei der Wahlkampffinanzierung – in Angriff zu nehmen, ging die PT darin auf.

Wie die Enthüllungen der seit zwei Jahren laufenden Untersuchung Lava Jato (Autowäsche) zeigen, sind in dem riesigen Korruptionsskandal um den halbstaatlichen Erdölkonzern Petrobras nicht nur, aber eben auch Millionenbeträge an die PT geflossen. Gleiches geschah bei anderen Megaprojekten wie dem skandalumwitterten Staudamm Belo Monte am Amazonas-Nebenfluss Xingu, den Lula und Rousseff gegen sämtliche Widerstände und unter Beugung des Rechtsstaats durchsetzten.

Mitte März wurde eine Liste des brasilianischen Baukonzerns Odebrecht bekannt, auf der detaillierte Zahlungen an PolitikerInnen jedweder Couleur auftauchen. »Es handelt sich eben nicht um eine Episode, sondern die illegalen Praktiken waren strukturell und zeigen, wie Politik in Brasilien funktioniert und wie politische Kampagnen finanziert werden: Korruption ist tief in die staatlichen Strukturen und Logiken, Handlungen und Motivationen eingewoben«, sagt die Soziologin Camila Moreno.

Nicht zuletzt ist die Hybris der beiden PT-Staatschefs eine Ursache der jetzigen Krise. Auf dem Gipfel seiner Popularität, als er die Fußball-WM und die Olympischen Spiele nach Brasilien holte, war Lula ein Superstar auf der Bühne der Weltpolitik, der von Hugo Chávez wie von Barack Obama geschätzt wurde. Beschwingt vom Rohstoffboom der 2000er Jahre, schied Lula Ende 2010 mit einer Popularität von 86 Prozent aus dem Amt.

Der Technokratin Rousseff hingegen fehlte das Geschick, in der Schlangengrube Brasília zu bestehen. Gerade bei ungünstigen Mehrheitsverhältnissen im Parlament – 2003 stellte die PT 91 von 513 Bundesabgeordneten, heute sind es nur noch 62 – ist politischer Dialog unabdingbare Voraussetzung für politischen Erfolg. Doch die Präsidentin verschanzte sich meist im Palast, selbst die sozialen Bewegungen ließ sie links liegen.

Dass Lula in bester Caudillo-Manier per Fingerzeig Rousseff zu seiner Nachfolgerin erkor, war sein vielleicht größter Fehler. In Brasilien droht nun ein Rollback, in dem nicht nur die sozialen Errungenschaften aus 13 Jahren PT-Regierung weiter zurückgedrängt werden. Selbst die Werte der Verfassung von 1988, die drei Jahre nach dem Ende der Diktatur in Kraft trat, sind jetzt in Gefahr.
Der Sturz Dilma Rousseffs ist das jüngste Anzeichen dafür, dass der historisch einzigartige progressive Zyklus in Südamerika zu Ende geht. Nach dem Sieg des Rechtsliberalen Mauricio Macri in Argentinien, der Niederlage des chavistischen Lagers bei der Parlamentswahlen in Venezuela und der Absage der BolivianerInnen an Evo Morales, der bei der kommenden Präsidentschaftswahl kein weiteres Mal mehr antreten darf, nun also der »kalte Putsch« in Brasília. Allerdings sind dessen geopolitische Implikationen von ganz anderer Reichweite.

Die selbstbewusste Außenpolitik Brasiliens unter Lula hatte zu neuen regionalen Bündnissen und einem nie gekannten Rückgang des Einflusses Washingtons in Lateinamerika geführt; das »Begräbnis« der gesamtamerikanischen Freihandelszone Alca im argentinischen Mar del Plata 2005 wurde zum Fanal.

Doch die Schattenseiten eines ungebrochenen Fortschritts- und Wachstumsdenkens bei der Regierungslinken sind schon seit Längerem nicht mehr zu übersehen.
Kritische Intellektuelle wie der Venezolaner Edgardo Lander erklärten bereits im vergangenen Jahr, in Lateinamerika sei der Begriff Sozialismus diskreditiert und unbrauchbar für die politische Auseinandersetzung – er dachte dabei vor allem an die »bolivarianischen« Projekte in Venezuela, Ecuador und Bolivien.

Im Brasilien der PT-geführten Koalitionsregierungen stand der Sozialismus nie auf der Tagesordnung, bei aller Affinität Lulas zu seinen progressiven AmtskollegInnen. Es gab nicht einmal ein kohärentes Reformprojekt für Brasilien, immer stärker stand der Machterhalt um seiner selbst Willen im Vordergrund. Daher ist die Desillusionierung mit der PT schon viel älter als die jetzige Krise. Aber der Juni 2013 in Brasilien mit den Protesten rund um den FIFA-Confed-Cup hat gezeigt, dass es ein emanzipatorisches Potenzial gibt, das noch auf der Suche nach Entfaltung ist. Doch das dürfte ein langwieriger Prozess werden. Ob und wann der »brasilianische Frühling« tatsächlich ausbricht oder gar die Linke in der Region eine zweite Chance bekommt, ist völlig offen.

Unser Autor leitet das Regionalbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in São Paulo.