Frau ohne Risiko

Riem Hussein ist die zweite Schiedsrichterin, die im Männerprofifußball pfeift

Früher hat sie als Stürmerin oft über Schiedsrichter gemeckert. Dann entschied Riem Hussein, dass sie es besser machen will. In der noch laufenden Saison pfeift sie erstmals auch Spiele im Männerprofifußball.

Das Raunen der 20 000 Menschen hat sie nicht gehört. Ein leises, hohles »Oh« auf den Rängen, mehr war es ja nicht. Als würde ein Zauberer eine weiße Taube aus seinem Zylinder ziehen. Das reißt niemanden mehr vom Hocker, aber diese kurze, affektive Verblüffung, die ist trotzdem nicht zu unterdrücken.

Riem Hussein kommt aus dem Spielertunnel im Stadion an der Alten Försterei, dem Heimstadion des Fußball-Zweitligisten Union Berlin, auf den Platz gelaufen und kriegt nicht mit, wie der Stadionsprecher die Namen der Unparteiischen für das Spiel ansagt. Die Union-Fans antworten ihm traditionell auf jeden Namen mit einem »Na und?!«. Und so kommt es: Sven Jablonski, Benedikt Kempkes, Daniel Riehl und als Vierte Offizielle: sie, Riem Hussein. Na und?! »Das hört man doch bei meinem Namen gar nicht raus, ob ich ein Mann oder eine Frau bin«, sagt sie ein paar Wochen später zu Hause in Bad Harzburg in Niedersachsen und findet die Frage irgendwie Quatsch, ob sie als Schiedsrichterin anders wahrgenommen wird auf dem Platz.

Erst drei Monate zuvor hatte sie Herbert Fandel, Vorsitzender der DFB-Schiedsrichterkommission, als zweite weibliche Unparteiische im männlichen Profifußball nach Bibiana Steinhaus auf einer Pressekonferenz vorgestellt, was zu Schnappatmung in den Sportredaktionen führte. Seit dem pfeift sie Spiele in der 3. Liga und ist Vierte Offizielle bei Zweitligaspielen, wo sie am Spielfeldrand für die Auswechslungen und die Anzeigetafel verantwortlich ist und das Brummen und Knurren der Trainer von der Bank unmittelbar abbekommt.

Als sie von ihrem Einsatz in der 3. Liga erfuhr, war sie gerade im Urlaub. »Das war schon Wahnsinn«, sagt sie und malträtiert ihre Kartoffeln auf dem Teller, wie man das in dieser Effizienz lange nicht beobachtet hat. Rundheit spielt hier keine Rolle, die Gabel fixiert, das Messer teilt in Sekundenschnelle blitzblank in zwei gleich große Hälften. In der Mittagspause lotst Hussein Journalisten am liebsten in ein Restaurant, das nicht weit von der Apotheke im Kurzentrum entfernt ist, die ihrem Vater gehört und in der sie mit zwei ihrer vier Geschwister als promovierte Pharmazeutin arbeitet. Wie die meisten Frauen, die viel Zeit in den Fußball investieren, kann sie davon nicht leben. Für ihre Einsätze als Schiri bekommt sie eine Aufwandsentschädigung. Auf dem Weg zum Lokal ist es quasi unmöglich, auch nur zehn Meter voranzukommen, ohne in Gespräche verwickelt zu werden. »Alles gut. Danke«, antwortet Hussein dann freundlich, aber macht gar keine Anzeichen, stehen zu bleiben. Sie hat Termine. Man kennt sie hier, nicht nur, weil sie den Hustensaft ausgibt.

»Es hat für mich schon Signalwirkung, dass ich so spät noch Schiedsrichterin im Profifußball geworden bin. Erstmal für den ›Nachwuchs‹, der schon über 30 ist und dann natürlich auch für die Frauen im Sport«, sagt sie. Ihre Kollegin Bibiana Steinhaus ist DFB-Schiedsrichterin geworden, da war sie 20. Sechs Jahre später pfiff sie das DFB-Pokalfinale der Frauen. Mit 28 leitete sie als erste Frau ein Zweitligaspiel der Männer. Hussein kennt Steinhaus gut, war viel mit ihr unterwegs. Im Gegensatz zu Steinhaus fing sie erst mit Mitte Zwanzig an, Spiele als Schiedsrichterin in der 2. Bundesliga der Frauen zu pfeifen. 2010 dann, da war sie 30, das vorläufige Karriere-Highlight, DFB-Pokalfinale der Frauen vor über 26 000 Zuschauern in Köln. Drei Jahre später wurde sie die beste Schiedsrichterin Deutschlands, nachdem der DFB die Auszeichnung vier Jahre lang an Bibiana Steinhaus verliehen hatte.

Hussein hat selbst mal Fußball gespielt und als Stürmerin zu oft über Schiedsrichter gemotzt, bis sie beschloss, es besser machen zu wollen. Sie hat in einer Zeit, zu Beginn der 1990er Jahre, angefangen, als Mädchen noch die ausrangierten Trainingsklamotten der Jungs tragen mussten und die »Mannsweiber« und »Fußballlesben« mit Sicherheit zu keiner Party der Klassenschönheiten eingeladen wurden. Bei der TSG Bad Harzburg spielte sie anfangs noch bei den Jungs, bis die Pubertät kam und sie in die C-Jugend der Mädchen gesteckt wurde. In zwei Jahren stieg sie mit dem Verein von der Bezirks- in die Verbandsliga auf. Den MTV Wolfenbüttel, zu dem sie vor dem Studium gewechselt war, schoss sie bis in die 2. Liga. 18 Tore in einer Saison, da kamen die Angebote aus Wolfsburg und Hamburg. Wäre nicht dieser Tag im Jahr 1998 gewesen, an dem sie bei einem Spiel ihres Bruders zuerst nur Zuschauerin war und dann selbst auf dem Platz stand, in Trainingshose und T-Shirt, mit Pfeife, Kugelschreiber und Block in der Hand, aber ohne Gelbe und Rote Karten. Als der Schiri nicht auftauchte, war sie die Einzige am Spielfeldrand, die schon mal selbst gekickt hatte. Ob sie sich das zutrauen würde, wurde sie gefragt, dann pfiff sie ihr erstes Spiel. Erstmal nach Gefühl, die Grundregeln kannte sie ja. Die Jungs hatten sich hinterher nicht beschwert, irgendwas musste sie richtig gemacht haben. Der Abschied vom aktiven Fußball fiel ihr schwer und dauerte lange. Mehrere Jahre piff sie samstags Spiele und stand sonntags für den MTV auf dem Platz. »Das ging nicht lange gut, ich musste mich entscheiden.« Bei der TSG und später auch in Wolfenbüttel mussten die Frauen alles selbst organisieren. Auswärtsfahrten, Stadionhefte, für nichts davon war wirklich Geld da. Auf der anderen Seite die professionell ausgearbeiteten Lehrgänge, Aufwandsentschädigungen und eine Kulisse vor mehr als 100 Zuschauern. Sie konnte nicht anders.

Hussein kennt die Dokus über Schiedsrichter am Rande des Nervenzusammenbruchs. Die jedes Wochenende in den unteren Ligen pfeifen, sich von Trainern, Zuschauern, Eltern anschreien, beleidigen und sogar verprügeln lassen müssen. Ihr ist das bisher noch nie passiert. Ob es damit zusammenhängt, dass sie eine Frau ist und die Hemmschwelle für Ausraster höher, das kann sie nicht beurteilen, denn ihre Sicht auf den Job kennt keinen Unterschied zwischen Mann und Frau.

Stattdessen tut sie, was die meisten Frauen tun, die ernst genommen werden wollen: Mit Perfektion verkleinert sie die Angriffsfläche bis auf null. So hat sie den schnellen Aufstieg in den Profibereich geschafft. »Jeder kämpft dort an jedem Spieltag um seine Daseinsberechtigung«, sagt sie. Trainer, Spieler, auch die Schiedsrichter. Wer eine schlechte Partie zu viel pfeift, Karten wie beim Mau Mau verteilt, Elfmeter übersieht oder zu zögerlich entscheidet, ist schneller wieder in der Bezirksliga, als er denkt. Am Ende jeder Saison entscheidet eine Kommission darüber, wer auf- und absteigt, wer dabei bleibt. Nach jedem Spiel wird sie von einem Beobachter eingeschätzt. Der gibt ihr eine Note, bewertet unter anderem Regelumsetzung, Laufverhalten und Stellungsspiel. »Mein Anspruch ist, in jedem Match fehlerfrei zu sein«, sagt Hussein.

Akribisch bereitet sie sich, die Vollzeit in der Apotheke arbeitet, auf die Spiele am Wochenende vor, für die sie durch die ganze Republik fährt. Sie hat von der Uefa einen Zugangscode für ein Scoutingportal im Internet bekommen. Dort ist alles aufgelistet, was sich irgendwie in Statistiken verwandeln lässt. Welche Mannschaft spielt die Ecken kurz, orientieren sie sich eher am zweiten oder ersten Pfosten, welcher Spieler blockt im Strafraum gern die Gegenspieler weg? Sie guckt sich alles an, notiert, analysiert. Auch ihre eigenen Spiele nimmt sie hinterher auseinander, schaut sich Videoaufzeichnungen an.

Nur ein Mal hat ein Spiel sie bis nach Hause verfolgt, da lag sie nachts wach und hat gegrübelt, ob sie richtig entschieden hat. Die Diskussion will sie nicht wieder auftauen, aber öffentlich infrage gestellt zu werden, das hat ihr zu schaffen gemacht, ihr, der Gerechtigkeit und Fairness die Welt bedeuten. Mit ihrer Mama hat sie oft diskutiert, mal mehr, mal weniger erfolgreich. Hat nicht verstanden, warum ihrem Bruder mehr erlaubt wurde als ihr. Zu ihren Fußballspielen sind ihre Eltern immer gekommen, auch auswärts. Der Vater, der aus Palästina nach Deutschland kam, hatte sie sogar, ohne dass sie es wusste, im Verein angemeldet.

Und nun ist es so, dass sich die einen am Wochenende mit Bratwurst und Bier auf die Tribüne plauzen, und unten auf dem Rasen seine Tochter mit jedem heiklen Pfiff vor dem Scherbengericht aus Fans, Trainern und 22 SpielerInnen steht. Warum tut sie sich das an? »Wenn ich mir die Frage irgendwann genauso stelle, dann sollte ich aufhören.« Sie ist fasziniert von der primitiven und unmittelbaren Gerechtigkeit, die sie nach jedem Grätschen, Rempeln und Trikotzupfen wieder herstellt. Es ist die Gratwanderung, ein Spiel niemals mit einer einzelnen Entscheidung in der Hand zu haben. »Wenn nachher keiner über dich redet, hast du alles richtig gemacht.«

Sie denkt lange über die Frage nach, ob sie Beleidigungen auf dem Feld oder von außen wirklich treffen können. Bis hierhin war sie der Meinung, sie könne alles mit der »Hier-rein-da-raus-Attitüde« verkraften, dann sagt sie: »Von einer Frau aufgrund meiner Entscheidungen auf dem Platz beschimpft zu werden, das würde mich sehr treffen. Es wäre enttäuschend, dass ausgerechnet eine Frau nicht unterstützt, dass wir jetzt auch da oben mitmischen.«

Vor dem Spiel sagt sie den Teams Hallo, die Assistenten an den Außenlinien sind ihre Partner, kein Beiwerk und ein Grund, warum sie keine Fehler machen will. »Ich möchte für sie Vorbild sein.« Auch, weil in Niedersachsen mittlerweile bei Frauenspielen ausschließlich weibliche Referee-Teams aufgestellt werden. »Leider sind wir insgesamt immer noch zu wenig«, sagt sie. 49 Schiedsrichterinnen listet der DFB auf seiner Homepage für die 1. und 2. Liga der Frauen. Nur zwei davon pfeifen auch Profi-Männerspiele, keine in der 1. Liga.

Beim Spiel Union Berlin gegen den FSV Frankfurt wirkt Hussein an der Seitenlinie als Vierte Offizielle wie eingesperrt von Kalklinien und den zwei Trainerbänken, streift auf den paar Quadratmetern hin und her, immer den Ball im Blick. Als Frankfurts Stürmer Dani Schahin Unions Mittelfeldspieler Michael Parensen auflaufen lässt, pfeift der Schiri nicht. Unions Trainer André Hofschneider, sonst eher mit seinem Trainerstühlchen verwachsen und mimisch irgendwo zwischen Angela Merkel und Türsteher am Berghain, springt auf, rennt angestachelt an den Spielfeldrand. Er will einen Freistoß. Nichts passiert. Hussein läuft zu ihm, Hofschneider beugt sich 30 Zentimeter nach unten, hört angestrengt zu und sitzt augenblicklich wieder auf dem Plastikhocker. Ruhe. »Es ist wichtig, dass alle Beteiligten von Anfang an merken, dass man Ahnung hat. Dann gehen sie normal mit dir um.«

Die Saison ist in zwei Wochen vorbei, ob sie nächstes Jahr wieder bei den Männern pfeift, hängt von ihrer Bewertung ab. Herbert Fandel jedenfalls hielt vor der Saison viel von ihr: »Wir haben uns umgehört, in ihrem Verband, überall. Wir wissen sehr genau, wie andere Fachleute sie einschätzen, wir gehen null Risiko ein.« Kein Risiko. Das ist wohl die höchste Form der Anerkennung.

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