Als Fremder daheim

»Luftsprünge«: Eine literarische Reise durch Europa

  • Sabine Neubert
  • Lesedauer: 3 Min.

Was ist Europa?, fragt der Herausgeber Thomas Geiger im Vorwort zu dem Sammelband »Luftsprünge«, mit dem er zu einer »Literarischen Reise« in viele Regionen des Kontinents von Portugal bis Albanien, von Lappland bis nach Griechenland einlädt, und man kann ihm nur zustimmen, wenn er das geistige Fundament und das »zentrale europäische Erkennungszeichen« dem Gedanken der Aufklärung verpflichtet sieht. »Dieser kleine und dicht besiedelte Kontinent ist eine der abwechslungsreichsten und schönsten Weltgegenden geblieben«, sagt Thomas Geiger, Mitbegründer der Zeitschrift »Sprache im technischen Zeitalter«. Gekennzeichnet ist der Kontinent durch die Vielfalt der Sprachen, Kulturen, historischen Entwicklungen, Landschaften, Mentalitäten, Industrien, Küchen usw. Das spiegeln die zahlreichen Erzählungen, Romanauszüge und Gedichte dieses Bandes.

Ginge es nach den Literaten, dann hätten wir jetzt, angesichts konvergierender und divergierender Kräfte, wohl einige Probleme weniger in Europa. In ihren Heimatländern verankert, sind sie fast alle in vielen Ländern Europas und der Welt nicht nur unterwegs, sondern auch »zu Hause« - persönlich und in ihren Geschichten. Der Band ist politischer geworden, als zunächst konzipiert. Das verwundert nicht, sind doch viele Autoren verständlicherweise mit der literarischen Verarbeitung von Kriegsgeschehen und Konflikten der letzten Jahrzehnte beschäftigt (Ivana Bodrozic, Kroatien; Dževad Karahasan, Bosnien, Herzegowina; Juri Andruchowytsch, Ukraine), ganz abgesehen von den großen Umbrüchen nach 1989 (Sergej Lebedew, Russland).

Doch zurück zu den europäischen Wanderungen! Geradezu ein Musterbeispiel für Multikulturalität schrieb der in Stockholm und Berlin lebende Schriftsteller Aris Fioretos in seinem Text (einer der besten im Buch) »Die Hüften der Großmutter«, der schwedische Heimat und griechisch-österreichische Herkunft zu einer wunderbaren Erzählung verdichtet. Nicht nur die Nestwärme der eigenen Kinderzeit, sondern die ganze Lebensgeschichte der Wiener Großmutter mit all den Jahrhundertverletzungen haben darin Platz. Von dieser Großmutter hatte das Kind Aris vor allem das gelernt: »Es war möglich, sich im Fremden genauso heimisch zu fühlen wie als Fremder daheim. Es galt bloß, gemeinsame Sache mit dem Unterschied zu machen ... « Sätze, die als Motto des ganzem Bandes gelten können.

Die zahlreichen Texte des Buches haben sehr unterschiedliche Sujets und entsprechende Ausdrucksweisen. Als Extreme sei einerseits die Erinnerung der Albanerin Luljeta Lleshanaku an ihr Heimatdorf genannt, durchweht von »einem feinen Duft von Katsuraholz«, andererseits Michel Houellebecqs satirische »Prominentenmord«-Geschichte. Nicht zufällig erzählen gleich mehrere Texte von Straßen, deren Wirklichkeit symbolhafte Bedeutung erlangt - geht es ja fast immer um Bewegung und Unterwegssein, um Lebenswege. Der in Sibirien geborene Eugenijus Ališanka beschreibt die Geschichte der heruntergekommen Kalvarien-Straße seiner jetzigen Heimatstadt Vilnius, die in Sowjetzeiten zur Dserschinski-Straße mutierte und nun wieder wie einst Prozessionen sieht. Zwei Meistern, den Nobelpreisträgern José Saramago (gest. 2010) und Orhan Pamuk, sind »Reise«-Texte zu verdanken. Saramagos »Portugiesische Reise« führt in eine Kathedrale in Lagos und damit in die Geschichte bis zur Römerzeit, dann aber zurück in die Gegenwart und, die Welt verabschiedend, in die eigene Heimat. Orhan Pamuks eleganter Text einer Fahrt mit dem Bosporusdampfer bezeichnet Weg und Ankunft im Herzen seiner Stadt Istanbul. Thomas Geigers »Literarisches Reisebuch« macht »Luftsprünge« in viele Richtungen, besonders in eine tolerante, vielfältige Zukunft der Literatur.

Luftsprünge. Eine literarische Reise durch Europa. Hg. v. Thomas Geiger. dtv. 368 S., br., 16,90 €.

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