Mein Promi, dein Promi

Zwei Orte auf der griechischen Halbinsel Chalkidiki beanspruchen Aristoteles für sich, doch der Universalphilosoph hat für beide Streithähne einen klugen Rat. Von Stephan Brünjes

  • Stephan Brünjes
  • Lesedauer: 6 Min.

Wie eine verstümmelte Riesenpranke liegt die Halbinsel Chalkidiki im Ägäischen Meer. Zwei Finger sind bei Urlaubern sehr beliebt, Nummer drei beherbergt die abgeriegelte Mönchsrepublik Athos. Nördlich davon, sozusagen an der Handkantenküste Chalkidikis, gibt’s nur gemütlich-verschlafene Dörfer mit ein paar Tavernen und in Buchten dümpelnden Fischerbooten. Weshalb sich die Menschen hier besonderer Lockmittel für Touristen bedienen müssen. Ein Promi kann da sicher helfen - vor allem in der seltenen Sonderausführung »Very Important Philosopher«. Sein Name: Aristoteles. Dieser Gelehrte ist noch heute - gut 2300 Jahre nach seinem Tod - ein Säulenheiliger in Biologie und Physik, Staatstheorie und Ethik, Meteorologie und Astronomie. Wie geschaffen also für die posthume Nebenrolle als - Tourismus-Honorarkonsul von Stagira.

Dieses Dorf, knapp 100 Kilometer östlich von Thessaloniki, gilt nicht nur als Aristoteles’ Geburtsort, es steht auch gleich zweimal auf der Landkarte: Nummer eins in den Bergen, Nummer zwei - kaum neun Kilometer Luftlinie entfernt - an der Küste auf einer Felsnase. Beide Stagiras werben emsig mit dem Philosophen. Dabei existiert das eine, an der Küste gelegene, eigentlich gar nicht mehr so richtig. Das andere in den Bergen hingegen schon, aber es hat genau genommen nichts mit Aristoteles zu tun. Wer das nun als Besucher begreifen will, hört jetzt möglicherweise die Stimme des Very Important Philosophers aus dem Jenseits: »Denken und Sein werden vom Widerspruch bestimmt.« Einer seiner klassischen Lehrsätze - alltagstauglich bis heute.

Wo nun anfangen, um diese Geschichte der zwei Stagiras und des einen Philosophen zu entwirren? Am besten bei Dimitris Sarris im kleinen Ort Olimbiada, gleich neben dem Küsten-Stagira. Beim Hotelier und seiner Schwester Loulou Alexiadis weht Aristoteles meist im Frühjahr als guter Geist durch Bar und Speiseraum: In Vorträgen lassen Universitätsprofessoren den antiken Vordenker mit dem vollbärtigen Grüblergesicht auferstehen, und Köche servieren dazu Menüs aus der Zeit von 350 vor Christus. Nanu, hat der Promi etwa auch seine Lieblingsessen auf Papyrus hinterlassen? »Nein«, sagt Dimitris Sarris, »aber wir wissen ja, die Menschen damals aßen Fisch und hatten keinen Zucker, also süßten sie ihre Speisen mit Obst. Deshalb servieren wir heute Oktopus an Aprikose.« »Es gibt kein großes Genie ohne Verrücktheit«, glauben wir die Philosophenstimme das kommentieren zu hören.

Doch Dimitris Sarris lässt sich nicht beirren. Er spricht fast akzentfreies Deutsch, hat mehr als zehn Jahre in Dortmund gelebt und eine gute Dosis deutsche Beharrlichkeit und Zielstrebigkeit mit ins griechische Hinterland gebracht. Passend dazu auch der Name »Hotel Germany«. So hat er sein Haus an der Promenade schließlich umgetauft, weil Gäste es schon jahrelang so nannten und sich am griechischen Namen »Akroyiali« immer fast verschluckten. Ihnen zeigt Dimitris gerne sein Stagira. Oder besser, was davon übrig ist: Reste der sich durch das hügelige Gelände oberhalb Olimpiadas ziehenden, bis zu zwei Meter dicken Stadtmauer aus Kalkstein und Marmor mit Turmruinen. Restauriertes, antikes Straßenpflaster, Brunnen und tönerne Wasserleitungen sowie Grundrisse von Häusern mit ins Erdreich eingegrabenen Amphoren in Weinfassgröße - antike Kühlschränke für Trockenfrüchte und Wein. Die Agora, der antike Fest- und Versammlungsplatz ist erkennbar mit Relikten der Stoa drauf, einer damals vielerorts üblichen, überdachten Säulenhalle. Atemberaubend schön das Panorama von hier oben, mit gleich zwei Küstenabschnitten. Da mag dem Philosophen manch weitreichender Gedanke gekommen sein: »In der Muße scheint das Glück zu liegen. Es gehört denen, die sich selber genügen.« Apropos Aristoteles: Wo sind denn nun seine Devotionalien, Gedenksteine oder Heldenstatuen?

Soweit sei man noch nicht, sagt Dimitris Sarris leicht zerknirscht, »Probleme mit der Finanzierung dieser historischen Stätte« murmelt er, »Finanzkrise, Sie wissen schon.« Und biegt rasch ab in einen historischen Exkurs: 384 vor Christus sei Aristoteles hier geboren - und nicht da oben, das hätten Historiker zweifelsfrei festgestellt. Da oben? »In diesem Bergdorf«, raunt Sarris nur, ohne dessen Namen zu nennen. Nein, Stagira kommt ihm nur für seinen Küstenort über die Lippen. Etwa 7000 Einwohner habe der damals gehabt, sei durch Truppen Philipp von Makedoniens im Jahre 349 v. Chr erobert und bis auf die Grundmauern zerstört worden. »Selbst im Hirn des weisesten Mannes gibt es einen törichten Winkel« , mag Aristoteles gedacht haben. Er unterrichtete damals einen 13-jährigen Jungen namens Alexander, aus dem später »der Große« werden sollte. Er war der Sohn Philipps, und so konnte der Philosoph Alexanders zerstörerischen Papa bitten, Stagira wieder aufbauen zu lassen, was Philipp sogleich tat - vielleicht in Erkenntnis dieser aristotelischen Binse: »Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile«.

Außer solcher Historienprosa gibt’s also keine Aristotelesspuren im Küsten-Stagira. Und im Berg-Stagira? Immerhin eine schmucke Statue: Mit Papyrusrolle in der Hand steht der Promi in Sandalen auf seinem Sockel und das schon seit 1954. Damals hat man hier in den dicht bewaldeten Stratonikiohügeln nicht widersprochen bei Vermutungen, dieses Stagira könnte Aristoteles‘ Geburtsort sein. Dass das Dorf erst 1924 gegründet wurde - also 2246 Jahre nach Aristoteles’ Tod - das kann man ja mal vergessen, nach all den Jahren. Und wenn er schon im Dorf rumsteht, der Aristoteles, dann soll er dabei ruhig ein bisschen was tun fürs Dorfmarketing, dachten sich findige Stagirianer in den 1980er-Jahren und sahen den VIP als Zentralfigur eines Philosophen-Wallfahrtsortes. Mit Aristoteles-Hotel, und Aristoteles-Wanderwegen, vielleicht sogar einem Kongresszentrum und auf jeden Fall einem Themenpark, der wahrscheinlich Tausende Besucher anzöge. Doch auch hier, immerhin 500 Meter über dem Meeresspiegel, ist die Stimme des Meisters deutlich hörbar: »Zur Wahrscheinlichkeit gehört auch, dass das Unwahrscheinliche eintreten kann.«

Das Unwahrscheinliche erreichte Berg-Stagira schon bald in Form wirklich sehr unpassender Nachrichten von der Küste. Dort wollten Archäologen 1990 das antike, das wahre Stagira gefunden haben. Sie begannen es auszubuddeln und sind sich seitdem sicher: Aristoteles’ Geburtsort ist das Küsten-Stagira. In den Bergen reagierte man sauer: »Ihr da unten habt sowieso schon den Strand und die Hotels. Jetzt nehmt ihr uns noch den berühmtesten Sohn unserer Stadt weg!« Dieser hat als Trost immerhin die Erkenntnis parat: »Lernen tut weh«.

Seit 2004 hat das Berg-Stagira nun immerhin einen kleinen Aristoteles-Park rund um dessen Statue: Mit Sonnenuhr, Brennlinse, Prisma und Pendeln sowie weiteren, auf den Philosophen zurückgehenden XXL-Geräten zum Ausprobieren für Besucher. Von hier führen Wanderwege runter in den Küstenort Stagira. Leider nicht immer zielführend ausgeschildert. Hinweisschilder fehlen entweder, oder sie sind vom Baum gefallen, stecken darunter im Boden und weisen gen Himmel. Schön, dass sich Aristoteles auch hier beim Wanderer mit einem - möglicherweise - hilfreichen Hinweis meldet: »Ein vortrefflicher Charakter wählt immer den Mittelweg.«

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