nd-aktuell.de / 09.06.2016 / Kultur / Seite 14

Wuchtiger Ausdruck, gezügelte Form

Josef Scharl: Ein Meister des Nachexpressionismus in der Galerie Nierendorf

Jens Grandt

Ein ikonisches Bild zieht die Aufmerksamkeit der Besucher sofort auf sich: Das Porträt Albert Einsteins. Eine säkulare Gestalt ohne jede Pose, in sich ruhend, unter wallendem weißen Haar die gekräuselte Stirn, die Tabakspfeife locker in der Hand. Offenen Blicks schaut er uns an, als wollte er fragen: Wer seid ihr, wo steht ihr? Ein Gemälde aus dem Jahr 1944, farbenprächtig wie alle Werke Josef Scharls.

Der in einer ärmlichen Familie in München geborene Maler fand in den frühen 1930er Jahren recht schnell Anerkennung. Aber seiner sozialkritischen Themen wegen und weil er sich jeder deutschtümelnden Heroisierung verweigerte, wurde Scharl von den Nazis mit Malverbot gestraft. Schon in der ersten Ausstellung »Entartete Kunst« in Nürnberg beschmierten Nationalsozialisten seine Bilder. 1938 emigrierte er in die USA und kehrte nie mehr zurück.

In der Fremde gab ihm Einstein Halt. Die beiden hatten sich bereits 1927 in Berlin kennengelernt. Scharl besuchte und malte den berühmten Physiker mehrmals. Von 1941 an standen sie in freimütigem Briefkontakt. Einstein befürwortete den Einbürgerungsantrag des Emigranten mit einer Art persönlichem Gutachten, und 1954, als Scharl einem Herzversagen erlag, gab er in seiner Grabrede zu verstehen: Der von ihm geschätzte Freund habe nicht nur wie ein Künstler gesehen, er sah durch: »Er sah durch die Tragik und durch die Abgründe dieser Menschenwelt.«

Einen gewissen Heimatersatz, auch Adresse seines Schaffens, bot ihm die Gallery Karl Nierendorf in New York, und von hier schlägt sich der chronologische Bogen zur Galerie Nierendorf in der Berliner Hardenbergstraße. Die lange Traditionslinie der Pflege des Scharlschen Œvres setzte mit der ersten Einzelausstellung des Künstlers im Januar 1933 ein. Noch 1935 wagten die Brüder Nierendorf, eine zweite Scharl-Auswahl zu zeigen. Seit Wiedereröffnung der Galerie nach dem Krieg gab es mehrere Präsentationen des in Nazideutschland verfemten und dadurch im Nachkriegsdeutschland fast vergessenen Malers und Grafikers.

Josef Scharl kann zu den »Nachexpressionisten« gezählt werden. Anfangs beeinflusst von van Gogh und Otto Dix, löst er sich von der ekstatischen Darstellungsweise und findet zu einem klaren, minimalistischen Stil mit großen Farbflächen, der etwas an die naive Malerei erinnert. In der Motivwahl aber sowie im Bestreben, »unakademisch« neue Wege der Gestaltung zu beschreiten, verbindet ihn viel mit den klassischen Expressionisten. Der »Hockende Mann im dunklen Anzug« ist eine stille Anklage, gegen Armut und Trostlosigkeit. Man kennt solche Armenporträts von Otto Nagel. Bei Scharl scheint mir der Ausdruck der Verzweiflung noch direkter, noch intensiver. Erschreckend »Das Massaker an den Unschuldigen«, 1942 entstanden: Ein totes Kind, dem Blut aus halb geöffnetem Mund rinnt. Der Titel ist mit englischen Worten in den schwarzen Fond gemalt, und darunter lesen wir Namen von Ortschaften, die durch Kriegsverbrechen in die Geschichte eingegangen sind, beginnend mit Guernica, Adis Abeba, Warsaw ...

Mit den Jahren vereinfachen sich die Formen bei Scharl immer mehr. Er abstrahiert, ohne einer sinnentleerten abstrakten Malerei zu verfallen. Landschaftliche Objekte - Bäume, Vulkane, Wolken - und Stillleben erscheinen in symbolischer Gestalt. In Deutschland tut man sich schwer mit der Zuschreibung des Symbolismus, aber in einer bestimmten Schaffensphase kann Scharl auch als Symbolist bezeichnet werden. Porträts aus den mittleren Jahren wiederum haben etwas Ikonenhaftes - bei aller expressiven Farbigkeit, das Antlitz meistens kräftig braun, manchmal blau, Konturen betont umrahmt. Erstaunlich, wie provozierend unmittelbar diese Gemälde durch markante Reduzierung auf den Betrachter wirken.

Solche Malweise mag nicht jedem gefallen, aber sie hat ihre Liebhaber. Auch die magisch anmutenden Himmelsbilder, die in den USA entstanden, vermutlich unter dem Einfluss der Gedanken Einsteins, finden nachhaltiges Interesse: »Fallende Sterne«, »Aufgehende Sonne«. Für Scharl bewegen sich die Gestirne in einem durch kräftige Farbschlaufen dargestellten Materie- oder Klangraum. Kompositionen, die uns in einen transzendenten Bereich entführen.

Bei aller thematischen und technischen Vielfalt hat Scharl seine Eigenständigkeit bewahrt, und zwar kompromisslos. Als »großer Künstler folgte er nur der inneren Stimme, die ihm unentwegt ... zu steigender Meisterschaft und Reife finden ließ«, schrieb Albert Einstein.

Galerie Nierendorf, Hardenbergstr. 19, am Bahnhof Zoo, Di-Fr 11-18 Uhr, bis 16. September.