Türkische Schüler wollen keine Schafe sein

Aufbegehren gegen Erdogans Bildungspolitik / Erzürnter Staatschef sieht schon »die Geier kreisen«

  • Jan Keetmann
  • Lesedauer: 3 Min.
Schüler und Studenten begehren gegen den Kurs ihres Staatschefs und seiner Getreuen im Bildungswesen auf. Die Ferien dürften nur eine Atempause bringen.

Der türkische Präsident Tayyip Erdogan sieht einmal mehr finstere Mächte am Werk. »Wir sehen, dass einige Mächte die Universitäten und Gymnasien aufgehetzt haben«, diagnostizierte der Staatschef auf einer Versammlung des muslimischen Unternehmerverbandes Müsiad. Dazu könne er nicht schweigen, »während die Geier über uns kreisen«.

Begonnen hatte es mit einer spektakulären Aktion am altehrwürdigen Istanbuler Erkek Lisesi. Als dessen Rektor Hikmet Konar bei der Abschlussfeier sprechen wollte, drehten ihm die Absolventen ohne Ausnahme den Rücken zu. Ein Schüler begründete die Aktion später unter anderem mit der Entfernung eines beliebten Geschichtslehrers von der Schule wegen »Beleidigung der Religion«. Außerdem habe der Rektor ein Konzert und Exkursionen verboten, die an dem Gymnasien bisher jährlich stattfanden. Dafür wurde erstmals die Woche, in der Prophet Mohammed geboren wurde, groß gefeiert.

Die Proteste sprangen im Handumdrehen auf andere Gymnasien in Istanbul und Ankara über. Am Galatasaray Gymnasium verteilten Schüler ein Flugblatt, in dem sie einen neuen Rektor suchen. Zu den geforderten Qualifikationen gehört eine »minimale Fähigkeit« mit jungen Menschen umzugehen. Außerdem wird die »Fähigkeit« verlangt, das Rektorat auszuüben, ohne seinen Schülern eine Waschmaschine und ein Klavier zu stehlen und sie bei sich Zuhause aufzustellen.

Am französischen Gymnasium Notre Dame de Sion verteilten Schüler ein Flugblatt, in dem sie sich über neue Kleidervorschriften und ihre rigorose Durchsetzung beschweren. Die Schülervertretung am Kadiköy Anadolu Lisesi veröffentlichte eine mit dem Stempel »Verwaltung« versehene Erklärung, in der zu lesen war, dass es an der Schule kein Problem gebe und dass nicht zensiert werde. Allerdings waren zwei Drittel der Erklärung mit schwarzen Balken unlesbar gemacht.

Begonnen hat der Schüleraufstand an Elitegymnasien, die einer laizistischen Tradition verpflichtet sind. Das in seiner heutigen Form 1868 gegründete Galatasaray Gymnasien war die erste Schule in der Türkei, an der ein westlich orientierter Unterricht stattfand. Erdogan ist dagegen ein Absolvent einer Predigerschule und seine AK Partei ist einem mehr konservativ-religiösem Erziehungsmodell verhaftet.

Lange Zeit waren die Gymnasien von Erdogans konservativer Kulturrevolution nur wenig berührt. Doch vor einem Jahr beschloss das Erziehungsministerium, dass an 170 Gymnasien im Lande, die Rektoren direkt vom Ministerium eingesetzt werden. Mit den neuen Rektoren erlebten die Schüler eine Art Kulturschock. So lobte der neue Rektor am Erkek Lisesi, Hikmet Konar, übers Internet den reichlich umstrittenen Prediger Nuretti Yildiz als aufrechten Kämpfer gegen die »Zionisten«. Yildiz selbst sorgte jüngst damit für Furore, dass er Kinderheiraten ab einem Alter von sechs Jahren empfahl. Außerdem wird zumindest einigen der neuen Rektoren nachgesagt, dass sie ihren Job mehr ihren guten Beziehungen als ihrer Qualifikation verdanken. So soll Hikmet Konar ein Freund von Erdogans Sohn Bilal sein.

Erdogan hat indessen Glück, dass sich die Proteste erst zum Ende des Schuljahres entwickelt haben. Wegen der Ferien wird es wohl keine unmittelbare Fortsetzung geben. Der Kulturkampf an Schulen und Universitäten ist damit aber wohl noch nicht zu Ende. »Wir wollen nicht, dass die Schulen unseres Landes, in Institutionen zur Aufzucht von Schafen verwandelt werden« heißt es in einem Flugblatt der kämpferischen Schüler.

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