Cameron - mehr Feigling als Glücksspieler

Der Premier machte im eigenen Machtinteresse die Rechten stark und geriet immer mehr unter Druck

  • Ian King, London
  • Lesedauer: 3 Min.
Immer neue Zugeständnisse wollte Englands Premier der EU abringen, um sich die Gunst der rechten Tories und von UKIP-Anhängern zu sichern. Jetzt steht die EU-Mitgliedschaft in Frage.

Premier David Cameron beschwor Kriegsgefahr, Finanzminister George Osborne warnte vor Rezession und wirtschaftlicher Not: Britannien sei außerhalb der EU und des Binnenmarkts schutzlos. Trotzdem sieht die EU-Volksabstimmung wie ein Kopf-an-Kopf-Rennen aus, bei dem am Ende die an die Wand gemalten Katastrophen im Falle eines Austritts eintreten könnten. Ist Cameron also ein Glücksspieler?

Paradoxerweise lautet die Antwort: nein. Er ist eher ein Feigling, der den knurrenden Rechten seiner Konservativen Partei Knochen vor die Füße wirft. 2005 als Außenseiter im Kampf um den Parteivorsitz angetreten, wollte er Gegner auf seine Seite ziehen, bot ihnen den Austritt der Tories aus der gemeinsamen EP-Fraktion der Europäischen Volkspartei an. Die Konzession an Rechts reichte zum eigenen Sieg, führte aber zu einem Brüsseler Fraktionsbündnis mit fanatischen Abtreibungsgegnern und Holocaust-Leugnern - und seine Rechten hatten Blut geleckt. Nicht nur die 2010 stark angeschwollene Gruppe der EU-Hasser im Unterhaus setzte den Premier unter Druck, sondern auch die Angst vor der rechtspopulistischen United Kingdom Independence Party (UKIP). Daher trat Cameron bei EU-Gipfeln barsch auf, vergrätzte mögliche Alliierte, schielte nach der Zustimmung der einheimischen Rechtspresse für seine Auftritte als britischer Patriot. Cameron verhinderte finanzielle Deals, entzog sich der Verantwortung für gemeinsame Flüchtlingshilfe.

Doch vergebens: Den »Kippers«, den UKIP-Leuten um den Vorsitzenden Nigel Farage, und den eigenen rabiaten Tories reichte alles Schimpfen auf die EU nicht. So warf ihnen Cameron 2013 das Versprechen einer Volksabstimmung in den Rachen, hoffte auf grundlegende Konzessionen bei den Verhandlungen mit seinen EU-Partnern.

Aber an dem Grundsatz der Freizügigkeit wollten die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihre Amtskollegen nicht rütteln. Fünf Kabinettsmitglieder und der ehrgeizige Londoner Oberbürgermeister Boris Johnson setzten sich im Abstimmungskampf daraufhin für den Austritt ein.

Ein nicht zu erfüllendes Versprechen Camerons belastete die »Remain«-Kampagne um den Verbleib in der EU - die Netto-Migrationszahlen nach Britannien auf unter 100 000 zu drücken. Mitten im Wahlkampf platzte die Bombe: Unter Cameron war die Zahl auf 300 000 angestiegen. Dass Flüchtlingen geholfen werden muss, dass die meisten Einwanderer nicht aus EU-Ländern stammten - alle Argumente der Vernunft gingen im Getöse der »Brexiters« unter.

Übernehmt wieder die Kontrolle, schrien Johnson und Konsorten. UKIP-Chef Farage ließ gar ein Plakat mit einer endlosen Reihe angeblicher Möchtegern-Englandmigranten drucken - es waren Syrienflüchtlinge an der slowenischen Grenze. Von denen sehnten sich nur die Wenigsten nach den weißen Klippen von Dover. Auf Johnsons »Kampfbus« prangte eine zweifach überhöhte Zahl für britische Zahlungen an Brüssel - die Mehrheit glaubte ihm.

Warnungen von Experten wie Bank of England-Vorstand Mark Carney oder IWF-Chefin Christine Lagard vor den Brexit-Nachteilen wurden in den Wind geschlagen. »Was wissen denn Experten?«, tönte Brexiter Michael Gove in Donald-Trump-Manier. Die Labour-Abgeordnete Jo Cox, eine Remain-Anhängerin, wurde letzte Woche von einem Rechtsextremisten ermordet, der sich vor Gericht mit »Tod den Verrätern« vorstellte.

Bei einem knappen Nein könnte trotz gegenteiliger Versicherungen des Premiers eine Rolle spielen, dass Volksabstimmungen hierzulande unverbindlich sind und eine Mehrheit der Abgeordneten den Ausstieg ablehnt. Austrittsfreunde beteuern, auch bei einem klaren Sieg für Brexit wolle man Cameron im nationalen Interesse im Amt lassen. Möglich ist auch, dass die Schotten den EU-Verbleib wählen, aber von Europa- feindlichen Engländern überstimmt werden. Dann würde die Nationalistenregierung in Edinburgh wieder nach einer Abstimmung über die Trennung von Großbritannien rufen - und englische Fußball-Hooligans würden frohlocken.

Es sei denn, die Wähler zeigten im letzten Augenblick ein Einsehen, würden auf Cameron, Labour-Chef Jeremy Corbyn, die meisten Arbeitgeber und Gewerkschaftsbund-Chefin Frances O’Grady hören und einem Verbleib in der EU zustimmen. Dann würde das Fazit lauten: Hetze gegen Migranten verstärkt, böses Blut allenthalben und die beiden Kleinkinder von Jo Cox ohne Mutter. War die Abstimmung das wert?

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