DiEM25 warnt vor »Europa der 1930er Jahre«

Varoufakis' Bewegung nach dem Brexit-Votum: »Haben versucht, die EU vor euch zu retten« / Galbraith: Union muss sich ändern oder sie »wird Sturm ernten«

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Berlin. Die linke europäische Bewegung DiEM25 hat nach dem britischen Brexit-Votum vor einem »Abdriften in einen fremdenfeindlichen und deflationären 1930er Jahre-Abgrund« in ganz Europa gewarnt. »Die Desintegration der EU läuft nun mit voller Geschwindigkeit«, heißt es in einer Erklärung zum Ausgang des Referendums in Großbritannien. Die knappe »Leave«-Mehrheit stelle »eine neue, aufregende Herausforderung für unsere paneuropäische Demokratiebewegung« dar. Man gebe sich »jetzt nicht niedergeschlagen«, heißt es weiter - die vom früheren griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis mitgegründete DiEM25 hatte sich vor der Abstimmung vehement für einen Verbleib Großbritanniens in der EU ausgesprochen.

In Richtung der Regierenden »in Brüssel, Berlin, Frankfurt, Paris« richte man nun die Botschaft: »Wir haben versucht, die EU vor euch zu retten. Aber ihr habt demokratische Stimmen zum Schweigen gebracht und dadurch die EU so sehr vergiftet, dass wir die Menschen in Großbritannien nicht überzeugen konnten zu bleiben, so sehr wir es auch versuchten.« Weder liege in der durch den Brexit drohenden Desintegration der EU eine progressive Alternative noch in der »Fortführung der bisherigen europäischen Politik«. Es sei der Kurs gewesen, für den »David Cameron, Tony Blair, Wolfgang Schäuble, François Hollande, Jean-Claude Juncker und weiteren Politiker stehen«, der »Verlust der Legitimität, der Integrität und der Seele der EU beigetragen« haben.

Der US-Ökonom James K. Galbraith, der sich für DiEM25 engagiert, warnte inzwischen vor den politischen und wirtschaftlichen Folgen eines Brexits für die EU. »Die Europäische Union hat Wind gesät. Sie könnte den Sturm ernten«, so das DiEM25-Gründungsmitglied. Der einzige Ausweg bestehe darin, dass sich die Union nun schnell verändert – dabei reiche es nicht aus, so Galbraith, irgendeine hohle »Einheit« zu verkünden, es müsse vielmehr um »einen demokratischen und realistischen New Deal« gehen, der allen Europäern zugute kommt.

Galbraith sieht den »Grundstein« für den Ausgang des Brexit-Referendums im Vorgehen der EU-Institutionen gegen »die letzte progressive pro-europäische Regierung«: gemeint ist die SYRIZA-geführte Koalition in Griechenland. Die meisten Briten hätte zwar »nicht direkt mit dem griechischen Trauma« zu tun gehabt und viele hätten auch »sicherlich schief« auf die griechischen Spitzenpolitiker wie Alexis Tsipras geblickt. »Aber sie müssen bemerkt haben, wie Europa von oben herab über die Griechen, wie es seine Beamten beschimpfte, wie es Bedingungen diktierte und so an einem rebellischen Land ein Exempel statuierte, so dass niemand versucht sein würde, sich auf einen ähnlichen Weg zu machen.«

Varoufakis hat das als Minister selbst erlebt – kommt aber auch nach dem britischen Referendum zu einem anderen Schluss als die linken Befürworter eines Ausstiegs aus der EU oder dem Euro, die sich nun verstärkt zu Wort melden. In einem in dieser Woche publizierten Appell hatten Wissenschaftler und Politiker aus mehreren europäischen Ländern auf einen »linken Ausstieg« aus dem Euro gedrängt und dies – unter ausdrücklichem Hinweis auf das Vorgehen der EU-Institutionen gegen Griechenland – als Möglichkeit »zur Verteidigung und Wiederherstellung der Demokratie« bezeichnet. Aus den Reihen von Linken in Großbritannien, Frankreich und auch der Bundesrepublik war der Brexit zum Teil begrüßt worden.

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»Ob die Befürwortung eines Austritts für die Anhänger der Linken sinnvoll ist, hängt davon ab, inwieweit es in einem von EU-Institutionen befreiten Nationalstaat leichter fällt, eine progressive Agenda der Umverteilung, der Arbeitsrechte und des Antirassismus durchzusetzen«, reagierte Varoufakis nun auf entsprechende Äußerungen – die zum Teil direkt als Kritik an DiEM25 geäußert worden waren. Höchstwahrscheinlich werde es in Großbritannien aber nun zu einer Politik »führen, die die Schrauben der Sparpolitik noch fester anzieht und neue Zäune errichtet, um die ungewollten Ausländer fernzuhalten«.

Vielen Linken falle es offenbar »schwer zu begreifen, warum ich mich für einen Verbleib« in der EU einsetzte, so Varoufakis mit Blick auf seine Erfahrungen mit der Europäischen Union im »Griechischen Frühling«. Dabei gehe es nicht darum, auf die bestehenden EU-Institutionen zu setzen, sondern »eine progressive Politik in Europa« gegen diese durchzusetzen – aber innerhalb der EU, weil ein solcher Politikwechsel nur in einem transnationalen Rahmen eine Chance habe. »Einst verstanden die Linken, dass man eine gute Gesellschaft erreicht, indem man in die vorherrschenden Institutionen eindringt, um deren regressive Funktion zu überwinden. 'Im und gegen den Staat: war unser Motto. Das sollten wir wiederbeleben«, so Varoufakis.

Er warnte zugleich vor falschen Hoffnungen in die Spielräume nationalstaatlicher Politik. »Einst verstand die Linke die Bedeutung der gleichzeitigen Arbeit auf kommunaler, regionaler, nationaler und internationaler Ebene. Warum glauben wir auf einmal, der nationalen vor der europäischen Ebene Priorität einräumen zu müssen?«, fragt der Ökonom – und zitiert in seinem Beitrag für das Debattenportal »Project Syndicate« den slowenischen Philosophen Slavoj Žižek, der sich ebenfalls gegen einen »sozialistischen Nationalismus« ausgesprochen hatte. tos

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