Urlauber zwischen den Fronten

2016 verübte der IS in der Türkei schon drei Anschläge auf Touristen. Aus Solidarität mit dem türkischen Volk nun erst recht reisen oder das Land boykottieren - das fragt Heidi Diehl

  • Heidi Diehl
  • Lesedauer: 6 Min.

Das Beste, was einem Land passieren kann, ist eine gute Entwicklung im Tourismus«, sagte Sebastian Ebel, Vorsitzender Geschäftsführer der TUI Deutschland GmbH, am 18. Juni bei der Vorstellung der Winterprogramme vor Journalisten. Ein Satz wie in Stein gemeißelt! Zehn Tage später sprengten sich im internationalen Flughafen von Istanbul drei Selbstmordattentäter in die Luft und rissen 45 Menschen mit in den Tod. Viele von ihnen Touristen. Es war in diesem Jahr bereits der dritte gezielte Anschlag in der Türkei auf Touristen, zu dem sich - wie auch bei den beiden anderen - die Terrororganisation IS bekannte. Im Januar starben elf Deutsche in der Nähe der Blauen Moschee, im März drei Israelis und ein Iraner auf dem stets belebten und auch bei Touristen beliebten Taksim-Platz.

Die Türkei ist bis ins Mark getroffen, für den IS ein Punktsieg. Die Terrormiliz will mit diesen und weiteren Anschlägen nicht nur die Wirtschaft schwächen, sondern sich insbesondere auch am türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan für dessen Politik rächen. Die Rechnung zahlen Unschuldige mit ihrem Leben und das türkische Volk. Denn das Geschäft mit den Touristen ist eine der Lebensadern der Türkei. Hatten die Touristiker nach den ersten beiden Anschlägen noch gedacht, dass sich die Buchungsrückgänge für 2016 in Grenzen halten würden und wenigstens das Last-minute-Geschäft in der Hochsaison funktionieren würde, so nahm ihnen das jüngste Attentat alle Hoffnungen. Verzweiflung und Wut machen sich unter der Bevölkerung breit. Wut, die sich nicht allein gegen den IS, sondern zunehmend auch gegen die Politik des Staates nach innen und nach außen richtet, in der sie den Nährboden für den wachsenden Terror ausmachen. Die Folgen bekommen das Land und seine Menschen immer deutlicher zu spüren. Besonders hart trifft es den Tourismus. »Wer will denn noch in ein Land reisen, in dem jeden Moment eine Bombe hochgehen kann!?«, sagte vor wenigen Tagen ein Sicherheitsexperte mehr feststellend als fragend.

Die Zahlen bestätigen das: Laut eigenen Angaben des türkischen Tourismusministeriums kamen in diesem Mai im Verhältnis zum Vorjahresmonat im Durchschnitt 34,7 Prozent weniger Besucher. Besonders hart hat es die bei Sonne-Strand-Urlaubern besonders beliebte Region um Antalya erwischt. Hier betrug der Rückgang 59 Prozent. Allein 45 Prozent weniger Deutsche kamen und so gut wie gar keine Russen, deren Wegbleiben insbesondere den von Russland verhängten Sanktionen gegen die Türkei nach dem Abschuss eines russischen Kampfjets durch die türkische Armee im Grenzgebiet zu Syrien Ende November geschuldet ist.

»Schwarzer Juni« titelten deshalb einige türkische Tageszeitungen. Nach dem letzten Anschlag muss man davon ausgehen, dass es mit den Gästezahlen weiter rasant talwärts geht. Schon Anfang Juni befürchtete der türkische touristische Statistikdienst turizmdatabank.com, dass im schlimmsten Fall 2016 rund 7,6 Millionen weniger Gäste das Land besuchen würden als 2015, was finanzielle Einbußen von rund 8,9 Milliarden Dollar bedeutet. Wenn Russland die Sanktionen auch in dieser Woche gelöst hat, gilt als sicher, dass nach den 45 Toten auf dem Flughafen »Atatürk« noch mehr Urlauber wegbleiben, als der vor einem Monat angenommene »schlimmste Fall«.

»Landesweit ist weiter mit politischen Spannungen sowie gewaltsamen Auseinandersetzungen und terroristischen Anschlägen zu rechnen«, warnt das Auswärtige Amt. Die Deutschen, die sich nach einer Umfrage der Reisesuchmaschine Dohop.de bei der Wahl ihrer Reiseziele generell wenig von der politischen Lage beeinflussen lassen (80 Prozent), scheinen ihre Meinung in Hinsicht auf Urlaub in der Türkei doch grundlegend zu ändern. Der weltgrößte Reisekonzern TUI schätzt, dass die Buchungen mit einer Million in diesem Jahr nur halb so hoch sind wie 2015 und sich das erhoffte Last-minute-Geschäft vorerst erledigt hat. Stefanie Berg, Touristikchefin bei Thomas Cook, ist in Hinsicht auf die Kurzentschlossenen etwas optimistischer. Sie sieht zwar die allgemeine Verunsicherung bei den Gästen, hofft aber, dass sich das nicht so schlimm wie befürchtet in den Buchungen widerspiegelt: »Denn für die Feriengebiete im Süden der Türkei um Antalya schätzen die Gäste die Sicherheitslage anders ein als in Istanbul und Ankara.«

Nach dem letzten Anschlag allerdings haben die Verunsicherungen stark zugenommen. TUI und DER Touristik haben darauf reagiert und für alle Reisen mit Ankunft bis zum 31. Juli kostenlose Umbuchungen oder Stornierungen angeboten. Zahlreiche große Reedereien, wie Aida Cruises oder Costa, laufen schon seit einiger Zeit keine türkischen Häfen mehr an.

Was für die großen Touristikkonzerne ärgerliche Gewinneinbußen bedeutet, entwickelt sich für die Menschen vor Ort zur finanziellen Katastrophe. Zahlreiche Hotels mussten bereits schließen, viele Menschen wurden arbeitslos, Souvenirhändler, örtliche Gastronomen, Zulieferer und regionale Tourismusanbieter haben kaum noch Einnahmen. Viele geben Erdoğan und seiner Partei, der AKP, die Schuld an der Misere, werfen ihm schlechte Außenpolitik, die Verantwortung für die vielen terroristischen Anschläge und Herrschermentalität vor, die weltweit für ein schlechtes Image der Türkei sorge.

Unmittelbar nach dem Anschlag vom 28. Juni rief Taleb Rifai, Generalsekretär der Welttourismusorganisation (UNWTO) die internationale Reisebranche auf, die Türkei nicht im Stich zu lassen. »In Zeiten wie diesen, müssen wir zusammenhalten und dürfen nicht Reiseziele isolieren, die von Anschlägen betroffen sind«, sagte er.

Die Entscheidung darüber muss letztlich jeder für sich selbst treffen. Viele Für und Wider gilt es dabei abzuwägen: Soll man aus Solidarität mit den betroffenen Menschen vor Ort und als Zeichen, sich von Terroristen nicht einschüchtern zu lassen, weiterhin in die Türkei (und andere Krisenländer) reisen? Oder ist es richtiger, die Urlaubspläne aus Sicherheitsgründen zu ändern? Eine spontane Umfrage unter Kollegen von »neues deutschland« ergab, dass die meisten auch jetzt Urlaub in der Türkei machen würden. Ähnlich sehen das wohl auch all jene Leser, die bereits vor Monaten eine nd-Leserreise im Herbst nach Istanbul und die Westtürkei gebucht haben. Nicht einer von ihnen sei bislang davon zurückgetreten oder habe Bedenken angemeldet, sagte der Verantwortliche für die Leserreisen, Frank Diekert.

»Die Türkei ist eines der bedeutendsten Reiseziele in der Welt, und wir sind zuversichtlich, dass das Land dies auch bleiben wird«, ist UNWTO-Generalsekretär Taleb Rifai überzeugt. Das ist ganz offensichtlich auch der Deutsche ReiseVerband (DRV), der seine alljährliche Tagung in diesem Jahr bewusst in die Türkei gelegt hat. Vom 27. bis 29. Oktober treffen sich in Kuşadasi an der türkischen Ägäis Touristiker aus ganz Deutschland. Einer der Themenschwerpunkte, über die sie dort diskutieren werden, heißt: »Mit Sicherheit reisen: Urlaub in unruhigen Zeiten«. »Gerade wegen der Sicherheit wurden wir in den vergangenen Monaten mehrfach öffentlich hinterfragt, ob wir tatsächlich an dem lange geplanten Veranstaltungsort in der Türkei festhalten wollen«, sagte DRV-Präsident Norbert Fiebig. »Darauf gibt es eine klare Antwort: Ja. Gerade in politisch schwierigen Zeiten ist es wichtig, Kontakte nicht abreißen zu lassen, sondern intensiv zu pflegen.«

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal