Die Hose runterlassen

Im Kino: »Toni Erdmann« von Maren Ade

  • Tobias Riegel
  • Lesedauer: 6 Min.

Eine der Aufgaben von Unternehmensberatungen wie McKinsey ist es, neuen Eigentümern von Traditionsfirmen Argumente für die Entlassung möglichst vieler Mitarbeiter zu liefern. Es ist eine jener Professionen, deren Vertreter offenherzig zugeben, dass sie in ihrem Beruf eine aufgesetzte Rolle spielen (»performen«), um das Gegenüber (Geschäftspartner und Öffentlichkeit) zu täuschen und zu überrumpeln. Schon in der Sprache äußert sich ihre hohe Kunst der Maskerade, etwa wenn sie Entlassungswellen begründen: Durch »Modernisierungen«, von denen »Belegschaft und Region profitieren«, werden Betriebe »zukunftsfest« gemacht, die plötzlich notwendigen »Reformen« korrigieren eine »aufgeblähte Struktur«, nur »Verschlankung« und »Flexibilisierung« gewähren Konkurrenzfähigkeit und dadurch »Wohlstand für alle«.

Bei einer Geschichte, die in der Szene solcher moderner Märchenerzähler spielt, überrascht es also nicht, dass der »Coach« oder der »Personal Trainer« ein zentrales Element ist. Denn bei McKinsey und Co. wird nicht nur die Sprache maskiert - wie bei Schauspielern müssen auch beim Personal dauernd Potenziale optimiert, Mimiken verrätselt oder gewinnende Gesten einstudiert werden.

Als Unternehmensberaterin Ines (Sandra Hüller) einmal an ihrer »Performance« zweifelt, und sagt, beim Zuhören würde ihr die Körpersprache manchmal entgleiten, rät ihr Personaloptimierer: »Vielleicht liegt das daran, dass Sie tatsächlich zuhören. Sie sollten sich mehr auf die eigenen Standpunkte fixieren.« In dieser Welt, in der man trainiert, nicht zuzuhören, lebt Ines, die in Bukarest Firmen fleddert und die sich auf Geschäfts-Präsentationen wie auf einen Bühnenauftritt vorbereitet. Sie spürt ihre permanente Maskierung nicht einmal, bis spontan ihr Vater Winfried (Peter Simonischek) aufkreuzt und einige ihrer Gewissheiten wie ein Bulldozer zur Seite räumt.

In Maren Ades Tragikomödie »Toni Erdmann« geht es um viele Arten von Rollenspielen und Maskierungen: beruflich und privat, sichtbar und unsichtbar, lustig und todtraurig - und darum, wie durch ein richtig eingesetztes Rollenspiel auch Masken fallen können.

Winfried ist einsamer Musiklehrer und unverbesserlicher Scherzkeks. Nachdem sein Spontanbesuch bei Ines in Bukarest voll nach hinten losgegangen ist, reist Winfried nicht etwa nach Hause. Um einen Neustart in der erkalteten Beziehung zu seiner Tochter zu erzwingen, ergreift der ergraute 68er härtere Maßnahmen: Mit Zottelperücke und Witzgebiss schleicht er sich als der versponnene Personaltrainer Toni Erdmann in die Szene der so verkorksten wie ungesund selbstbewussten Unternehmensberater: »Ich habe gleich eine Supervision mit Herrn Hennemann«, ruft er seiner entsetzten Tochter in der Lobby zu. Doch die nimmt den Fehdehandschuh auf und akzeptiert das Duell mit der Kunstfigur Erdmann. Fortan liefern sich Vater und Tochter (auch in der Öffentlichkeit) bizarre Wortgefechte - als seien sie sich unbekannt. Es ist ein wahres Fest der Peinlichkeiten und der Unbehaglichkeit. Können sie mit dieser wilden Taktik die Entfremdung voneinander aufbrechen? Regisseurin Ade sagt zur irritierenden Konstellation ihres Films: »Familie kann auch stagnieren. Was wäre, wenn man sich noch einmal als Fremde begegnen würde?«

Vielleicht hat man von Ades Film nach dem internationalen medialen Begeisterungssturm von Cannes etwas zu viel erwartet. Denn welches Meisterwerk sollte einem solchen ausschließlich positiven Kritiker-Tsunami gerecht werden? So ist man auch zunächst etwas irritiert angesichts der vielen rein komödiantischen Elemente in dem Drei-Stunden-Film. Doch die versöhnen zum einen durch perfektes Timing und große Darstellerkunst: So schwingt bei Simonischek immer eine angemessene Portion bittersüßer Tragik in seinen Kalauern mit. Zum anderen wirken die Pointen (je länger der Film läuft) eben nicht als isolierte Schenkelklopfer, sondern werden von Ade intelligent mit dem Drama-Potenzial verbunden. Sie hat dadurch einen höchst unterhaltsamen Film geschaffen, der dennoch sehr ernst und sehr genau einen Familien- und Generationenkonflikt analysiert.

Der Film transportiert auch eine eigenartige Kapitalismuskritik. Schließlich repräsentiert Ines als kalte Exekutorin des Neoliberalismus vieles von dem, was der linke Winfried immer verachtet hat. Und sie ist ihrem Vater gegenüber erfüllt von der Arroganz der Jugend, dem Furor der Neoliberalen: »Es gibt Menschen in deinem Alter, die haben sich noch nicht aufgegeben, die haben noch was vor«, wirft die rastlos Aufgeputschte dem Vater seine »Antriebslosigkeit« vor. Dabei wird doch gerade sie - nach einem Berufsleben im Turbo-Haifischbecken - im Alter fix und fertig und zudem moralisch abgewirtschaftet sein. Doch Winfried muss auch einsehen: Die Freiheit und Weltoffenheit, die Flexibilität und das Selbstbewusstsein, die der linke Vater der Tochter mitgab, nutzt die, um skrupellos Karriere zu machen. So haben die 68er ihre Kinder aus Versehen zu hervorragenden Kapitalisten erzogen. Und diese Kinder denken zum Teil auch noch, dass sie das Recht (ja die Pflicht!) haben, die »angestaubte Heuchelei« der Eltern »endlich« über Bord zu werfen. Speziell Ines fühlt sich dermaßen »frei«, dass sie die Verbrechen ihres Berufsstandes offensiv verteidigt, über jedem Feminismus drübersteht und den demütigenden Büro-Sexismus als Naturgesetz annimmt.

Aber zum Glück urteilt Ade nicht platt über die Turbo-Kapitalisten, denn das moralische Urteil über sie ist ja längst gefällt. Dieser Verzicht auf den Zeigefinger ist eine große Wohltat. Dass Ade Ines› Aufstieg bei McKinsey eher freundlich begleitet, ist eine interessante Provokation. Eine Meinung über die Wirtschaftsterroristen im Businesskostüm muss (und kann) sich der Zuschauer schließlich selber bilden. Ein interessanter Kniff im Film ist auch, dass die elitären Industriezerstörer (außer Ines) auf den Freak Toni Erdmann nicht feindlich reagieren, sondern freundlich verunsichert - als seien sie insgeheim erleichtert, dass endlich mal jemand die Etikette bricht. Im ganzen Film wird niemand vorgeführt, so wie die Highspeed-»Reformer« darf auch der langsame Winfried seine Würde behalten.

»Toni Erdmann« wird von zwei tollen Darstellern getragen, wobei die Leistung von Peter Simonischek zunächst mehr heraussticht, einfach weil seine Verwandlung schon so spektakulär ist: »Er spielt ja nicht Toni, sondern Winfried, der Toni spielt. Das war die größte Schwierigkeit: Dass er als guter Schauspieler einen schlechten Schauspieler spielen muss«, erklärt die Regisseurin. Doch auch Sandra Hüller hat einige richtig starke Momente - und absurde: In einer Szene schmettert sie Whitney Houstons Schmachtfetzen »Greatest Love of All« in einer Mischung aus Naivität und Traurigkeit, dass es einem trotz vieler falscher Töne Schauer über den Rücken jagt. Doch auch in stilleren Einstellungen sind beide fast immer glaubhaft: Hüller, die ihre Ines mal verspannt und unsicher, mal schnippisch, angriffslustig und superprofessionell gibt. Simonischek, der die Tragik des traurigen (oft einfach nicht witzigen) Clowns mit einer gewaltigen (auch physischen) Präsenz verknüpft.

Dieser Film verbindet die großen Fragen nach dem Sinn des Lebens mit Furzkissen und Pappnasen, er schafft den Spagat zwischen Gesellschaftsanalyse und Nacktparty - ohne angestrengt zu wirken. Und er ist voller Hoffnung, wie Maren Ade betont: »Es ist kein Film über das Loslassen, sondern über das Hose runterlassen.«

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal