Der schnelle Weg zum Massenmord

Nach dem Attentat in Nizza: Was tun gegen narzisstische Problempersönlichkeiten?

  • Wolfgang Schmidbauer
  • Lesedauer: 7 Min.

Die Medien sind gegenwärtig voll von Aussagen über das verwirrende oder neuartige Täterprofil des Attentäters von Nizza, Mohamed Lahouaiej-Bouhlel. Ein Einzelgänger, ein gescheiterter Familienvater, ein Kleinkrimineller, der sich schnell radikalisiert hat und nicht mit einer Kalaschnikow, sondern mit einem Kühllaster mordet. Plötzlich scheint es, als könnte jeder jederzeit zum Mörder werden. Wer sich bisher damit tröstete, dass in Deutschland automatische Waffen streng kontrolliert werden und jeder junge Mann, der einem Hassprediger zuhört oder gar aus einem Ausbildungslager des IS zurückkehrt, von Videokameras erfasst wird, kann sich nicht mehr sicher fühlen.

Die Täter der Pariser Anschläge hatten die Sicherheitsbehörden bereits in ihren Listen (und mussten sich anhören, dass sie nichts unternommen hatten). Mohamed Lahouaiej-Bouhlel war überhaupt nicht als radikalisierter Muslim bekannt. Die Terrororganisation vereinnahmte den Massenmörder erst nach der Tat; es gibt kein Bekennerschreiben, aber am Samstag doch im Internet Lob für ihn als »Soldat des IS«, der die Aufrufe der Organisation zu Massakern an Glaubensfeinden befolgt habe.

Der Vater des Attentäters berichtet von Depressionen, für die sein Sohn noch in Tunesien in Behandlung gewesen sei. Aus den Fragmenten schält sich das Bild einer gescheiterten Existenz mit großer Kränkbarkeit und dissozialen Zügen heraus, ein junger Mann, der seine Probleme erst mit Alkohol und Bodybuilding, später mit Frömmigkeit zu betäuben sucht, der keine Gefühlsbindungen aufrechterhalten, keinen respektablen Job finden kann. Er sucht seinen Platz in der europäischen Konsumgesellschaft, ohne ihn zu finden.

Es spricht sich leicht von »Kleinkriminellen«, »dissozialen Persönlichkeiten« oder einer gescheiterten Existenz nach den Kriterien des europäischen Mittelstandes. Er ist letztlich Maßstab für soziales Gelingen, Attraktivität und Versorgung mit Konsumgütern. Aber wenn wir den Sicherheitsabstand aufgeben, der in solchen Etiketten oder psychiatrischen Diagnosen steckt, wird die Sache unheimlich und die Fragestellung dreht sich um. Sie lautet nicht mehr: Warum tun Menschen solche schrecklichen Dinge?, sondern eher: Was hält die meisten Menschen davon ab, zu entgleisen, auch wenn sie gekränkt und enttäuscht sind?

Es gibt ähnliche Fragestellungen in der klinischen Psychologie, zum Beispiel angesichts des Suizids. Praktisch jeder von den Millionen Menschen, die jedes Jahr an einer Depression erkranken, denkt an Selbsttötung. Die Zahl derjenigen, die sich tatsächlich selbst töten (oder es ernstlich versuchen), ist demgegenüber sehr gering. Wir erklären das damit, dass bei den meisten Menschen jene charakteristische Einengung des Denkens und Fühlens fehlt, die jene Wenigen in ihre Tat führt, die keine solchen Gegenkräfte mobilisieren können.

Auf dem Weg zu einer mörderischen Ausweglosigkeit gehen schrittweise Qualitäten verloren, die wir als »menschlich« beschreiben. Wer von einer solchen Einengung geprägt ist, verliert die Fähigkeit, sich in andere Menschen einzufühlen und sich sozial zu orientieren. Er wird rücksichtslos, denkt nicht mehr an das Leid, das er den ihm nahestehenden Personen zufügt, kümmert sich nicht um das Trauma des Zugführers, wenn er sich auf die Gleise stellt.

Kinder tun ungerne etwas, das ihnen körperlich schwer fällt, Schmerzen bereitet und nicht konkrete Vorteile bringt. Junge Männer suchen Ideale und sind bereit, für sie zu kämpfen, zu leiden, sogar zu sterben. Sie suchen nach eindeutigen Feinden und eindeutigen Hoffnungen. Wir sprechen heute sehr oft von einer »verzögerten Adoleszenz«; in der Tat finden wir heute dreißig-, ja vierzigjährige Männer, die in ihren typischen Ansprüchen und Problemen noch weit von dem Verantwortungsgefühl eines Erwachsenen entfernt zu sein scheinen. Neben der unmittelbaren Adoleszenzkrise von jungen Männern, die ihren Platz in der Gesellschaft nicht finden und so vom Gift der schnellen, geltungsgeilen Lösung in Versuchung geführt werden, gibt es inzwischen auch den Attentäter, der als Ehemann und Vater gescheitert ist und nun eine Lösung sucht, den Kränkungsschmerz zu überwinden, für sich und andere endlich unübersehbar zu werden.

In der Konsumgesellschaft sind Medienpräsenz und öffentliche Aufmerksamkeit ein Gut schlechthin, eine hoch begehrte Möglichkeit, etwas Besonderes zu sein und so dem Gefühl der Nicht-Zugehörigkeit und Bedeutungslosigkeit zu entrinnen. Die Massenmedien sind hier in einer bisher noch kaum bewussten und diskutierten Zwickmühle. Dramatische Berichte über Suizide bzw. Morde treiben die Zahl der Nachfolgetaten in die Höhe. Seit die Suizidrate in den USA nach dem Freitod von Marilyn Monroe signifikant anstieg, ist dieses Phänomen bekannt. Über Schüler-Suizide berichtet selbst die »Bild« nicht mehr mit Schlagzeilen - die tödliche Imitation ist inzwischen Allgemeingut, eine kaum glaubliche Ausnahme im sonst so unentrinnbaren schrillen Geschrei.

In dem Glauben an Ruhm verfilzen sich Paradiestradition und Medienwelt. Weil das zu allem entschlossene Ego sich selbst geopfert, den radikalsten Schritt getan hat, triumphiert es über alle Bedenken und Schuldgefühle. Den Attentäter, der seine Tat überlebt, werden die Bilder der Opfer verfolgen. Der sogenannte Selbstmordattentäter aber hat einen Vorsprung vor den Erinnyen gesichert, den niemand einholen kann.

Es ist bekannt, dass der Plan, sich zu töten, den narzisstisch Gekränkten entspannt und mit einer bisher nicht gekannten Zuversicht erfüllt. Ich habe Patienten mit solchen Störungen gekannt, die Suizidphantasien als Einschlafhilfe benutzten und gelernt hatten, mit ihnen umzugehen. So viel zu den gutartigen Fällen; von den bösartigen erfahren wir leider nicht hinter den Türen der therapeutischen Praxis.

Die »Schnelligkeit der Radikalisierung« ist für solche Fälle zu erwarten. Gerade weil die erlösende Spaltung der Welt in einen absolut guten und in einen absolut bösen Teil instabil ist, ihre vernunftwidrige Qualität stets die gewonnene Sicherheit gefährdet, muss rasch gehandelt werden, bringt nur die Tat alle Zweifel zum Schweigen. Diese Sehnsucht nach Betäubung rückt das suizidale Attentat in die Nähe der Drogensucht.

Wenn uns deren Gefahren heute nicht mehr in Panik versetzten, wie das zu Zeiten der Prohibition in den USA oder der Drogenwelle der sechziger Jahre in Europa der Fall war, dann liegt das nicht nur daran, dass wir uns an dieses Phänomen gewöhnt haben. Es hat sich herausgestellt, dass die pessimistischen Prognosen von einer ständigen, rasanten Zunahme so wenig zutreffen wie die martialischen Ankündigungen eines Sieges im »Kampf gegen die Drogen«. Es ist sehr viel klarer, was wir tun können. Wir müssen die Opfer gegen die Versuchung stärken und sie in ihrer Einsicht stützen, dass die Drogen ihre Lebensperspektive nicht bereichern, sondern verkümmern und verkürzen.

Selbstmordattentate werden immer erheblich seltener sein als Drogensucht. Wer sie bekämpfen möchte, muss aber einiges akzeptieren, das wir aus dem Umgang mit der Drogensucht gelernt haben.

Erstens: Es ist wichtig, die Täter nicht zu dämonisieren und ihre Tat als einzigartig, weltbewegend, ungeheuerlich zu beschreiben - gerade das fasziniert die Nachahmer.

Zweitens: Durch politisches Entgegenkommen und differenzierte Argumentation müssen die Anhänger des Islam Raum und Zeit erhalten, in ihrem Kulturkreis eine stringente religiöse Argumentation gegen das Selbstmordattentat zu entwickeln. Wer den Islam pauschal als »böse Religion« aburteilt, arbeitet den Hasspredigern in die Hände.

Drittens: Jeder Mensch misstraut im Grunde einer narzisstischen Willkür, sich über die natürlichen Grenzen der eigenen Existenz hinwegzusetzen. Je vielfältiger und positiver seine Vorstellungen über seine Zukunft sind, desto zögernder wird er sich zur Selbstauflösung entscheiden. Wer nicht nur die Jugendarbeitslosigkeit, sondern auch die soziale Deprivation im Kindergartenalter bekämpft, leistet wertvolle Prophylaxe.

Viertens: Die Vorstellung, dass ein im Massenmord triumphierendes Ego in einer anderen (besseren) Form weiterexistiert, muss nicht nur rational, sondern auch bildhaft entkräftet werden - durch künstlerische Darstellungen, durch kreative Weiterentwicklungen der Religionspädagogik.

Der Autor arbeitet als Psychoanalytiker und Autor in München. Er veröffentlichte 2009 »Psychologie des Terrors. Warum junge Männer zu Attentätern werden« im Gütersloher Verlag.

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