Türkischer Minister räumt Existenz »schwarzer Listen« ein

42 Haftbefehle gegen türkische Journalisten: Bekannte Reporterin Nazli Ilicak unter Beschuldigten / Amnesty International erhebt schwere Vorwürfe gegen Regime in Ankara: »Glaubhafte Beweise« für Folter

  • Lesedauer: 4 Min.

Berlin. Nach dem gescheiterten Militärputsch in der Türkei sind Medienberichten zufolge erstmals Haftbefehle gegen Journalisten erlassen worden. Wie die Fernsehsender NTV und CNN-Türk am Montag berichteten, ist unter den 42 Beschuldigten die bekannte Journalistin Nazli Ilicak, die 2013 wegen kritischer Berichterstattung über einen Korruptionsskandal von der regierungsnahen Zeitung »Sabah« entlassen worden war. Ob es bereits Festnahmen gab, war zunächst unklar.

Wie die Zeitung »Hürriyet« berichtete, wurden die Haftbefehle vom Büro des Istanbuler Anti-Terror-Staatsanwalts Irfan Fidan erlassen. Seinen Angaben zufolge hat bereits ein Polizeieinsatz begonnen, um die Journalisten festzunehmen. Ilicak wurde demnach aber nicht in ihrer Wohnung in Istanbul angetroffen. Möglicherweise sei sie an der türkischen Mittelmeerküste im Urlaub. Die dortige Polizei wurde den Angaben zufolge bereits alarmiert.

Nach Worten von Finanzminister und Vize-Regierungschef Mehmet Simsek, hat die türkische Regierung schon lange vor dem gescheiterten Militärputsch Listen mit den Namen von Regierungskritikern erstellt. Dass hinter dem Putschversuch der islamische Prediger Fethullah Gülen und seine Hizmet-Bewegung stehe, gelte als erwiesen, sagte Simsek der »Bild-Zeitung« am Montag.

»Dafür haben wir Beweise. Und deshalb hatten wir vor Wochen bereits in Militär und Polizei und Verwaltung Leute aus dieser Bewegung identifiziert«, sagte Simsek. Eigentlich hätte dann im Laufe des Jahres entschieden werden sollen, wer in Rente geschickt, wer befördert und wer entlassen werde.

Unterdessen sollen nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Amnesty International Gefangene gefoltert worden. Es gebe »glaubhafte Beweise« für die Folter von Festgenommenen in offiziellen und inoffiziellen Haftzentren, erklärte die Menschenrechtsorganisation. Gefangene würden von der türkischen Polizei in Ankara und Istanbul »in schmerzhaften Positionen über einen Zeitraum von bis zu 48 Stunden« festgehalten. Es gebe Fälle von Schlägen, Folter und Vergewaltigung. Amnesty-Europadirektor John Dalhuisen rief die türkischen Behörden auf, »diese abscheulichen Praktiken« einzustellen.

Amnesty forderte die Türkei auf, unabhängigen Beobachtern Zugang zu allen Einrichtungen zu gewähren, in denen Verdächtige festgehalten würden. Die Organisation kritisierte zudem Erdogans Dekret, das unter anderem erlaubt, dass Behördenvertreter bei Treffen von Verdächtigen und Anwälten anwesend sein und diese aufzeichnen dürfen. Dokumente, die zwischen Festgenommenen und Anwälten ausgetauscht werden, können zudem beschlagnahmt werden. Amnesty bemängelte, damit werde das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren unterlaufen.

Ein türkischer Regierungsvertreter wies die Vorwürfe »kategorisch« zurück. Menschenrechtsgruppen sollten das Vorgehen der Behörden »unparteiisch« schildern. Vorgegangen werde gegen jene, die während des Putsches »250 Zivilisten kaltblütig ermordet haben«, so der Regierungsvertreter.

Seit dem Putschversuch wurden in der Türkei nach Regierungsangaben mehr als 13.000 Menschen in Gewahrsam genommen, darunter gut 8.800 Armeeangehörige, fast 1.500 Polizisten und 2.100 Richter und Staatsanwälte. Laut einem neuen Dekret der Regierung dürfen Verdächtige künftig auch ohne Anklage bis zu 30 Tage festgehalten werden. Außerdem weist das Dekret die Entlassung sämtlicher Staatsbediensteter an, die zu »Terrororganisationen« oder Gruppen gehören, welche »gegen die nationale Sicherheit handeln«.

Nach einem Anadolu-Bericht wurden mehr als 45.000 Staatsbedienstete suspendiert, die verdächtigt werden, Verbindungen zu dem Putschversuch zu haben. Nach dem Dekret können Staatsbedienstete, die deswegen ihren Job verlieren, nicht in den öffentlichen Dienst zurückkehren. Hinzu kommen 21.000 Lehrer an Privatschulen, deren Lizenz entzogen wurde.

Der am Mittwochabend ausgerufene dreimonatige Ausnahmezustand erlaubt der Regierung, per Dekret zu regieren. Die Regierung in Ankara ordnete auch die Schließung von tausenden Einrichtungen an, die zur Gülen-Bewegung gehören sollen. Darunter sind 1043 private Schulen, 1229 gemeinnützige Einrichtungen, 19 Gewerkschaften, 15 Universitäten und 35 medizinische Einrichtungen wie Krankenhäuser.

Der autoritär agierende Präsident Recep Tayyip Erdogan beschuldigt den in den USA lebenden islamischen Prediger Fethullah Gülen und seine Anhänger, hinter dem Umsturzversuch vom 15. Juli zu stehen. Gülen weist dies zurück. Seit dem Putschversuch geht die islamisch-konservative Regierung mit aller Härte gegen Gülen-Anhänger vor. Die US-Regierung wisse, das Gülen »hinter dem Putsch steht«, sagte Justizminister Bekir Bozdag am Sonntag. Der Europa-Minister Ömer Celik sagte, die Gülen-Bewegung sei »brutaler« als die Dschihadistenmiliz Islamischer Staat. Agrarminister Faruk Celik sagte, »diese Leute als Tiere zu bezeichnen, ist hochgradig beleidigend für Tiere«.

Am Samstag wurden auch ein Neffe des 75-jährigen Predigers, Muhammet Sait Gülen, sowie die angebliche rechte Hand Gülens in der Türkei, Halis Hanci, festgenommen. Hanci, der in der Schwarzmeer-Provinz Trabzon verhaftet wurde, soll in der Gülen-Bewegung für Finanztransfers zuständig gewesen sein.

In Istanbul demonstrierten derweil am Sonntagabend zehntausende Anhänger und Gegner Erdogans gemeinsam für den Erhalt der Demokratie. Die sozialdemokratische Oppositionspartei CHP hatte zu der Kundgebung aufgerufen. Die Regierungspartei AKP, deren Anhänger bereits seit Tagen zu Zehntausenden auf die Straße gehen, schloss sich dem Aufruf an. Die Demonstranten schwenkten gut eine Woche nach dem gescheiterten Putschversuch am Taksim-Platz unzählige rote türkische Nationalflaggen. Daneben dominierten Porträts des Republik-Gründers Mustapha Kemal Atatürk, der ein laizistisches Staatskonzept verfolgte. CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu forderte alle Türken dazu auf, in den Ruf »Kein Putsch, keine Diktatur, sondern Demokratie« einzustimmen. Er sagte auch: »Wir sollten nicht vergessen, dass der Putschversuch vom 15. Juli die Ableitung einer drittklassigen Demokratie ist.« Agenturen/nd

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