Vier Stunden Eschweiler, angekettet

Das Geiseldrama von Gladbeck: über einen Medien-GAU und das kaputte System deutscher Strafvollzug

  • Tom Strohschneider
  • Lesedauer: 6 Min.

Es war der 28. August, der Feuerball brannte sich ins öffentliche Gedächtnis, eines der schwersten Unglücke bei einer Flugshow kostete 70 Menschen das Leben. Ramstein, 1988.

Die Katastrophe von Rheinland-Pfalz verdrängte damals eine andere Nachricht aus den Schlagzeilen - die Geiselnahme von Gladbeck. Im Rückblick eines der »spektakulärsten Verbrechen der Nachkriegszeit«, wie es der damalige Bremer Innensenator Bernd Meyer nannte, der in der Folge zurücktreten musste.

Die drei Tage, die zumindest die bundesrepublikanische Welt in Atem hielten, waren aber noch mehr: ein journalistischer Sündenfall. Was war passiert? Am 16. August hatten Dieter Degowski und Hans-Jürgen Rösner eine Bankfiliale im nordrhein-westfälischen Gladbeck überfallen und auf der Flucht durch die halbe Bundesrepublik und sogar die Niederlande mehrmals Geiseln genommen. Die Polizei reagierte konfus, lief den Ereignissen hinterher. Ein Beamter kam bei einem Unfall ums Leben, zwei Geiseln starben - der 15-jährige Italiener Emanuele De Giorgi und die 18-jährige Silke Bischoff.

Ob und wie das Verhalten von Journalisten dafür mitverantwortlich war, lässt sich kaum sagen. Sicher ist: Es war ein Medien-GAU. Reporter interviewten die Täter, ließen sich im Fluchtfahrzeug mitnehmen, behinderten die Polizisten, wiesen den Geiselnehmern den Weg, staffierten ein verletztes Opfer fotogerecht für die Kamera - kurzum: Sie durchbrachen in einer Art Gruppenexzess die Grenzen der journalistischen Ethik.

Einer von ihnen, Udo Röbel, später »Bild«-Chef, bekannte im Rückblick: »Wir waren wie berauscht.« Den Polit-Talker Frank Plasberg, damals beim Rundfunk, befiel späte Reue. Gladbeck habe gezeigt, »was passiert, wenn der Jagdtrieb mit Journalisten durchgeht«. Wegen Gladbeck wurde der Pressekodex geändert. Der Jagdtrieb ist geblieben.

Die Geiselnahme steht aber noch für etwas anderes: für das kaputte System Strafvollzug. Rösner war schon vor dem gescheiterten Banküberfall auf der Flucht, seit er 1986 von einem Hafturlaub nicht zurückgekehrt war. Ein 31-Jähriger, der bereits elf Jahre Knast hinter sich hatte. Rösner sagte während der Geiselnahme in eine der vielen TV-Kameras: »Ich scheiß› auf mein Leben.« Er sollte bis heute keines mehr haben.

Im März 1991 wurde Rösner wegen erpresserischen Menschenraubs, Geiselnahme mit Todesfolge und versuchten Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt, Degowski zudem noch für den Mord an dem italienischen Jungen. Beide haben bisher vergeblich versucht, eine vorzeitige Entlassung zu erreichen, die nach Verbüßen der Mindeststrafe möglich ist. Degowski darf inzwischen im Rahmen von begleiteten Ausführungen das Gefängnis verlassen. Rösner, für den nach der Haft Sicherungsverwahrung angeordnet wurde, hat kaum eine Perspektive auf ein »draußen« danach. 2015 war er zur »Aufrechterhaltung der Lebenstüchtigkeit« für vier Stunden in der Einkaufsmeile von Eschweiler, die Hände aneinandergekettet und in Begleitung von drei Justizbeamten.

Rösner ist das traurige Beispiel einer Knastbiografie, in der sich das Gefängnis als Idee selbst widerlegt: 36 Jahre hinter Gittern, ein Drittel davon vor Gladbeck, sind alles, nur keine Resozialisierung - obgleich diese doch seit den 1970er Jahren als »Vollzugsziel« verankert ist. Die Gerichtsreporterin Gisela Friedrichsen hat dieser Tage das Dilemma ausgesprochen, das hier sichtbar wird: Vor allem sehr lange Haft sei »nicht unbedingt dazu angetan, aus einem Menschen einen besseren Menschen zu machen«. Die meisten kämen »mindestens so kaputt« heraus wie sie hereingekommen sind. Mindestens.

Über 60 000 Menschen sind laut Zahlen des Justizministeriums derzeit in Deutschland hinter Gittern. Meist Männer. Meist zwischen 20 und 40. Meist für eine Zeit, die zwischen sechs Monaten und fünf Jahren liegt. Etwa jeder Dritte wird rückfällig.

Die Zustände in den Gefängnissen sind immer wieder Gegenstand politischer Debatten. Kriminelle Subkulturen, fehlende Betreuung, Gewalt - das macht Schlagzeilen. Seltener wird die Frage aufgeworfen: Was bringt das Prinzip Gefängnis überhaupt?

Der Leiter der Vollzugsanstalt im sächsischen Zeithain, Thomas Galli, meint: Eigentlich nichts. Er fordert eine Strafrechtsreform, in deren Zentrum »die Auflösung der Institution Gefängnis und deren Ersatz durch sinnvollere Alternativen« stehen soll. Gefängnis ist für Galli »ohne Wert für die Zukunft«.

Seit der Föderalismusreform von 2006 sind die Knäste Ländersache. Die meisten Experten waren damals dagegen. Es hat Versuche von Ländern gegeben, gemeinsam die Regeln für die Gefängnisse zu reformieren - doch wirklich verbessert hat sich nicht viel. Die Linkenpolitikerin Halina Wawyzniak fordert auch deshalb, die Zuständigkeit für den Strafvollzug wieder dem Bund zu geben. Es ist »nicht hinnehmbar, dass die Grundlage der Strafe, die Verurteilung, nach einem Bundesgesetz stattfindet, der Vollzug der Strafe selbst aber von der jeweiligen Landesregel abhängig ist«.

Das ist die erste Hürde für eine Reform des Systems Knast. Und es ist nicht die einzige. Selbst in einer rot-rot-grünen Koalition würden substanzielle Veränderungen der Strafvollzugspolitik »nicht unbedingt zu den einfachen Punkten gehören«, sagt Wawzyniak. »Der Strafvollzug soll menschenwürdig und am Ziel der Resozialisierung orientiert gestaltet werden«, heißt es bei den Grünen. Dem würde auch die SPD nicht widersprechen. Die Probleme liegen im Detail.

Wawzyniak macht sich dafür stark, dass Gefangene Internetzugang bekommen, dass sie in Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung einbezogen werden, sie plädiert für die Abschaffung der Ersatzhaft, wenn eine Geldstrafe nicht beglichen wird. Es gibt viele Punkte, an denen Änderungen nötig wären.

Aber politisch ist es dahin ein sehr weiter Weg. Man müsste, sagt die Rechtspolitikerin, erst einmal »einen Konsens erzielen, für welche Straftaten eigentlich der Freiheitsentzug als Folge Anwendung finden soll«. Die Zahl der Vergehen zu reduzieren, bei denen Gefängnis droht, wäre »vielleicht« ein Anfang, sagt Wawzyniak. In Deutschland kann man schon für Schwarzfahren oder unbefugten Kfz-Gebrauch hinter Gitter kommen.

Degowski und Rösner haben nicht nur ein Auto ohne Führerschein gefahren. Degowski kann damit rechnen, bald noch einmal die Welt jenseits der Knastmauern zu erleben. Ein Gericht hat die Vollzugsanstalt Werl vor drei Jahren aufgefordert, ihn auf eine mögliche Entlassung vorzubereiten. Es könnte noch in diesem Jahr soweit sein.

Rösner kämpft derzeit juristisch gegen einen ARD-Film über das Geiseldrama von Gladbeck, weil dieser eine mögliche Wiedereingliederung gefährden könnte, wie es sein Anwalt sagt. Doch ob Rösner überhaupt eine Chance darauf hat, steht dahin. Vor einem Jahr befand ein umstrittenes Gutachten, er kenne »nur das Leben in der sozialen Randgruppe krimineller und dissozialer Menschen«. Aber was soll der Knast daran ändern? Galli sagt: »Je länger Straftäter weggesperrt sind, desto gefährlicher werden sie.«

Immerhin könnte man die Knäste ändern, meint Wawzyniak. Denn ganz ohne wird es wohl auch unter ganz anderen politischen Verhältnissen nicht gehen. »Ich halte nichts von der Illusion, dass es eine straffreie Gesellschaft geben wird«, sagt die Politikerin. Aber »einen anderen Umgang mit Straftätern« finden, das wäre möglich. Wenn die Politik es will.

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