nd-aktuell.de / 17.08.2016 / Kultur / Seite 14

Empfang bei der Königin

Mit Jean Paul unterwegs: Orte und Geschichten in einem originellen Taschenatlas

Klaus Bellin

Sie lagen ihm zu Füßen, auch in Heidelberg. Jean Paul kam am 6. Juli 1817 mit dem Einspänner und erlebte, woran er längst gewöhnt war: Begeisterung überall, vor allem bei den Damen, in dieser Stadt sogar noch stürmischer, noch enthusiastischer als sonst. Die Studenten ehrten ihn mit einem Fackelzug, die Bürgerschaft schwärmte, jeder wollte ihn sehen und sprechen, Uhland und Ludwig Tieck drückten ihm die Hand, Hegel verlieh ihm, dem »Lieblingsdichter der Deutschen«, die Ehrendoktorwürde der Philosophischen Fakultät, und dann fand der bald Vierundfünfzigjährige in Sophie Paulus auch noch ein Geschöpf, halb so alt wie er, das ihn hingerissen liebte. »Ich habe hier Stunden erlebt«, schrieb er euphorisch, »wie ich sie nie unter dem schönsten Himmel gefunden.« So erhebend, so spektakulär war es noch nirgendwo gewesen. Heidelberg empfand er als Höhepunkt seines Lebens. Beglückt zog er am 23. August wieder nach Hause zu seiner wartenden Frau Caroline, zum Leidwesen natürlich der armen Sophie, die enttäuscht zurückblieb und bald, aus Kummer vermutlich, einen anderen heiratete.

Dass Jean Paul gern und viel unterwegs war, wissen Eingeweihte schon lange, und die sind seit 2013, als sein zweihundertfünfzigster Geburtstag gefeiert wurde, wohl zahlreicher geworden. Damals versammelte ein Band des Berliner Verlages Ripperger & Kremers Reisetagebücher und Briefe, und bei Transit, ebenfalls in Berlin, legte Dieter Richter eine schmale, unterhaltsame Reisebiografie vor. Jetzt kommt, bedeutend umfangreicher, ein Taschenatlas von beinahe fünfhundert Seiten dazu, ein schönes, originelles Buch, gewidmet allen, die für diesen Jean Paul, den witzigen Meister aus der fränkischen Provinz, den radikalen Einzelgänger mit seiner barocken, skurrilen Erzähllust, eine Menge übrig haben und gern mal seinen Wegen folgen möchten. Manche, die mit dem falschen Roman anfingen, den »Flegeljahren« oder dem »Titan«, und an diesen Brocken scheiterten, halten ihn, mag sein, für viel zu schwierig, zu weitschweifig und haben vor lauter Abwehr gar nicht mitbekommen, was für ein hinreißender, komischer Schriftsteller das war. Andere wundern sich womöglich. Von Jean-Paul Sartre wissen sie ja, aber Jean Paul?

Doch Jean Paul lebt, er hat nach wie vor eine treue, verschworene Lesergemeinde, die nichts auf ihn kommen lässt und sich freut, weil es immer wieder Leute gibt, die alles daransetzen, ihre Liebe auf andere zu übertragen. Einer von ihnen ist Bernhard Echte, Gründer eines kleinen und feinen Verlages in der Schweiz, dem Nimbus Verlag in Wädenswil am Zürichsee, ein Mann mit einer geradezu ansteckenden Leidenschaft für Kunst und Bücher. Er hat Ausstellungen konzipiert, Friedrich Glauser, Hugo Ball, Franz Hessel und Paul Cassirer ediert, mit Werner Morlang die fast unlesbaren Mikrogramme seines Landsmanns Robert Walser entziffert und schon einmal, 2013, Jean Paul mit einem phänomenalen Buch gefeiert, der umfangreichen Bildbiografie »Das Wort und die Freiheit«. Sie bietet Anschauungsmaterial in solcher Fülle, wie es in einer Publikation über den Autor noch nicht zu sehen gab.

Der Taschenatlas, von Echte und Michael Mayer in fadengehefteter Broschur vorgelegt, gedacht als literarischer Reisebegleiter, »mit dessen Hilfe sich der interessierte Leser am entsprechenden historischen Ort über Jean Paul informieren kann«, ist eines der einfallsreichsten und kurzweiligsten Bücher über den Dichter geworden. Es erzählt von einem Mann, dem die Sesshaftigkeit ungeheuer schwer fiel, der oft die Wohnungen wechselte und sich immer wieder auf den Weg machte, dabei allerdings auch immer die Bequemlichkeit suchte, die er zu Hause hatte. Es zog ihn quer durch Franken, auch nach Berlin, Mainz, Dresden und Weimar, wobei ihn die Sehenswürdigkeiten kaum interessierten. Selbst für Dresdens Kunstschätze hatte er keinen Blick. Wichtiger war ihm allemal das Quartier und dass er aufs geliebte Bayreuther Bier nicht verzichten musste. Als er nach Meiningen kam, nahm er eine Einladung zu einem Ausflug nach Rudolstadt gar nicht erst an, weil er fürchtete, dort sein Bier nicht zu kriegen, »dessen Mangel mich schon in Weimar krankgemacht«.

Jeder Ort, in dem Jean Paul irgendwann weilte, hat im Buch sein eigenes Kapitel. Es gibt, verfasst von einheimischen Autoren, eine ausführliche Beschreibung des Aufenthalts, der Unternehmungen und Begegnungen, der Freunde, Briefpartner und der Werke, an denen gerade gearbeitet wurde, eine Ortsskizze, eine chronologische Übersicht mit den Daten der Reise, ein Verzeichnis der Örtlichkeiten, die Jean Paul aufsuchte, Adressen der besonderen Sehenswürdigkeiten, Literaturangaben, an jedem Kapitelende knappe Anleitungen, »ein wenig Jean Paul zu sein«, das alles reich garniert mit Porträts, Landkarten, Stadtansichten, Brief- und Manuskriptseiten, Schattenrissen, Titelblättern, Fotos von Erstausgaben der Romane.

Hier hat man beides: ein attraktives Nachschlagewerk und, da Jean Paul viel herumgekommen ist, eine beinah komplette Lebensgeschichte. In Bayreuth, der ersten Stadt, die der Atlas verzeichnet, die er als Kind 1781 das erste Mal sah, ist er 1825 gestorben, in Wunsiedel, dem letzten Ort des Bandes, kam er 1763 zur Welt. Dazwischen die Stätten des Ruhms: Weimar zum Beispiel, der Sehnsuchtsort, Hauptstadt des Geistes, wo er 1796, umjubelt und gefeiert, zum ersten Mal die »Himmelsthore« aufstieß, oder Berlin, wo er 1800, inzwischen siebenunddreißig Jahre alt, überraschend die dreiundzwanzigjährige Caroline Mayer traf, seine spätere Frau, und wo er von Luise, Preußens schöner Königin, im Potsdamer Schloss Sanssouci empfangen wurde.

Höchst verdrießlich dagegen die Tage in München. Er kam 1820 mit seinem Pudel, um Sohn Max zu besuchen, und fand ein »brustfeindliches Klima«, eine »herzleere Gegend« und lauter frömmelnde Katholiken. Die Stadt gefiel ihm so wenig wie die Menschen, am schlimmsten war aber wohl, dass hier die erwartete Bewunderung ausblieb. Man kam nicht einmal auf die Idee, den berühmten Gast an die königliche Tafel zu bitten. »In Sanssouci«, schrieb er enttäuscht, »dachte eine andere Königin anders.« Und reiste aus dem literaturfernen München erleichtert wieder ab.

Bernhard Echte / Michael Mayer (Hg.): Jean Paul Taschenatlas. Nimbus Verlag. 488 S., br., 24,80 €.