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»Sie müssen Hochdeutsch mit ihr sprechen«

GEW-Vorsitzende Marlis Tepe über Sprachbarrieren und den Weg vom Bauernhof in die Frauenpolitik

  • Jörg Meyer
  • Lesedauer: 9 Min.

Sie haben mit 30 Jahren eine Weiterbildung zur Musiklehrerin gemacht, nachdem Sie schon einige Jahre Deutsch und Mathe unterrichtet hatten. Welches Instrument spielen Sie denn?
Klavier, das hat bei meinen Eltern im Bauernhaus im Flur gestanden. Das gehörte zum Leben dazu. Ich kann auch ein bisschen Gitarre spielen und für den Notfall ein wenig Blockflöte.

Ein paar Jahre zuvor hatten Sie Ihr Studium beendet und waren erst einmal auf Reisen gegangen?
Ja. Ich war von 1972 bis 1977 in Ausbildung, also Studium plus Vorbereitungsdienst. Damals herrschte große Arbeitslosigkeit. In Hamburg gab es keine Stellen, in Schleswig-Holstein zunächst auch nicht. Deshalb habe ich mich entschieden, eine große Reise zu machen. Mein damaliger Freund wartete auf einen Studienplatz, und so sind wir ein halbes Jahr zu Fuß und mit der Bahn durch Peru, Ecuador und Kolumbien gereist. Das Geld habe ich mit Nachtwachen im Krankenhaus verdient. Nach der Reise habe ich einen ersten Vertretungsjob an einer Schule bekommen. Neun Schulen lernte ich kennen, bis ich eine Dauerstelle bekam. Ich fand es unheimlich schade, dass man meine Sprachkompetenzen, ich hatte etwas Türkisch gelernt und konnte Deutsch als Zweitsprache unterrichten, nicht nutzte. Ich kam einfach aufs platte Land in Schleswig-Holstein. Das kenne ich gut. Daher habe ich das nie wirklich bedauert,
aber ein bisschen schade war es schon.

Zur Person

Marlies Tepe ist seit Juni 2013 Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Von Beruf ist die 62-jährige Schleswig-Holsteinerin Lehrerin und hat nach ihrem Studium in Hamburg erst dort und dann lange Jahre in Schleswig-Holstein an Haupt- und Realschulen Deutsch, Mathe, Musik und Haushaltslehre unterrichtet. Nach einem ersten Sitz im Lehrerhauptpersonalrat in den 1990er Jahren war Tepe seit 2007 als dessen Vorsitzende vom Lehrdienst freigestellt. Über ihren Weg vom Bauernhof im kleinen Dorf in Norddeutschland an die Spitze der GEW und was das mit Geschlecht und Diskriminierung zu tun hatte sprach mit ihr nd-Redakteur Jörg Meyer.

Sie sind auf einem Bauernhof in der Nähe von Bad Segeberg groß geworden. Wie kommt frau von da in linke Politik, in den Schuldienst und schließlich an die Spitze der GEW?
Der erste Schritt war, überhaupt aus dem Dorf rauszugehen. Die Entscheidung musste getroffen werden, ob ich auf die Realschule oder aufs Gymnasium gehen oder nach der Volksschule im Dorf bleiben wollte. Meine Eltern hatten mich bei der Realschule angemeldet. Aber kurz bevor der Schulwechsel anstand, habe ich zu meinen Eltern gesagt: »Entweder gehe ich aufs Gymnasium oder ich bleibe hier.«

Warum das?
Ich hatte keine Lust auf die Busfahrt. Das war so eine kurvige Strecke, da ist morgens vielen schlecht geworden. Meine Mutter ist dann zum Gymnasium gefahren und hat gefragt, ob noch ein Schulplatz frei ist, was der Fall war. Aber der Schritt ans Gymnasium war schwierig für mich.

Weil es noch weiter weg war?
Nein. Ich bin praktisch mit dem Vokabelheft zur Schule gegangen. Die Grundschule war zwar gut, aber ich kannte ja nur »Tuwort« und »Hauptwort «. »Nomen«, »Adjektiv« und »Verb« waren fremde Begriffe. Dazu kam die Umstellung von Plattdeutsch auf Hochdeutsch.

Sie wurden einsprachig erzogen?
Mein erster Schulaufsatz war eine Bildbeschreibung, eine Radierung, ich weiß es wie heute, drei Frauen
mit Harken im Heu. Wenn Heu in der Reihe liegt, heißt das auf Plattdeutsch: »Dat Heu liggt in Schwaat.«
Und ich kannte kein hochdeutsches Wort für Schwaat. Dann habe ich eben geschrieben: »Das Heu lag in
Schwaat«. Danach hat der Lehrer meine Eltern bestellt, meine Mutter ist hingefahren. Er hat ihr gesagt:
»Wenn Sie wollen, dass Ihre Tochter Abitur macht, müssen Sie mit ihr Hochdeutsch sprechen.« Das führte dazu, dass meine Eltern, wenn sie uns drei Kinder ansprachen, Hochdeutsch redeten. Wenn sie miteinander, den Großeltern oder den Landarbeitern, die mit uns am Tisch saßen, sprachen, war es Platt. Es gibt ein Lied von Knut Kiesewetter: »Mien Gott he kann keen Plattdütsch mehr«. So war es dann bei uns, man war ein Stück weit vom Dorf getrennt.

Und das alles nur, weil Sie keine Lust darauf hatten, dass Ihnen im Bus schlecht wird? Wann ist
Ihnen die Politik begegnet? DerFeminismus?

Wenn man zu Hause keinen Bruder hat, dann sind Eltern nicht so in der Gefahr, die Kinder unterschiedlich zu behandeln. Meine Eltern haben drei Töchter und möchten, dass aus denen das Beste wird. Unser Vater und unsere Mutter haben uns respektiert mit unseren Wünschen, sie haben uns ermöglicht, aufs Gymnasium zu gehen, obwohl sie uns nie helfen konnten. Mein Vater hatte keinen Schulabschluss, meine Mutter hat einen Hauptschulabschluss und hätte vielleicht mehr machen können, wenn das damals möglich gewesen wäre. Auch in der Schule habe ich keine Ungleichbehandlung
erfahren. Ich war Schülersprecherin. Später im Studium waren in meinem Freundeskreis viele Frauen, die gegen Paragraf 218 waren. Wir haben die Einrichtung der ersten Frauenhäuser in Hamburg unterstützt. Im Studium habe ich dann als Frau Diskriminierung kennengelernt.

Nanu? Gerade an der Uni, dem Hort gesellschaftlichen Fortschritts …
Ich bin von gleichaltrigen Männern beispielsweise wegen meiner noch immer fehlenden fachsprachlichen Beweglichkeit oder wegen meines fehlenden bildungsbürgerlichen Habitus diskriminiert worden. Ich bin oft verhöhnt worden. Das hat mich massiv geärgert. Das war für mich
Chauvinismus. Und ich habe gesehen, dass alle Führungspersonen an der Uni Männer waren. Die Schulleiter um uns rum, das waren alles Männer. Die Landesregierung, alles Männer. Schleswig-Holstein war seit ewigen Zeiten CDU-regiert. Da gab es kaum weibliche Vorbilder in der Politik. Frauen hatten kaum einen Zugang zur Macht, das ist struktureller Sexismus. Mein Vater hat einmal von einer Diskriminierung erzählt, die ich mir gemerkt habe: Bei uns im Dorf wurde diskutiert, ob die Meierei erhalten bleiben soll. Bei einer Versammlung der Milchbauern aus mehreren Dörfern hat sich mein Vater zu Wort gemeldet und gesagt: »Man muss die Meierei erhalten auch für die kommenden Generationen.« Da sei der Bürgermeister aufgestanden und habe gesagt: »Heinz Tepe, du hast doch bloß Töchter, wat willst du eigentlich?« Mein Vater hat auf Hochdeutsch geantwortet, was er normalerweise in diesen Kreisen nicht benutzte: »Töchter sind auch Erben!« Meine mittlere Schwester wollte den Hof weiterführen. Das passte mir als Ältester gut. Ich wollte Psychologin oder Lehrerin werden.

Sind Sie mit Beginn des Berufslebens oder schon im Studium in die Gewerkschaft eingetreten?
Im Studium bin ich der GEW nicht begegnet. Ich bin eingetreten, sobald ich Arbeitnehmerin wurde. Das
war nach dem Studium im Vorbereitungsdienst, als ich das erste Mal Geld verdient habe. Es war auch immer die Frage, macht man in einer der KGruppen mit. Aber ich hatte auf dieses direkte Feld der Politik und Parteipolitik keine Lust. Ich fand von vornherein wichtig, meine eigenen Rechte als Arbeitnehmerin zu vertreten. Das war verbunden mit dem Wunsch, gute Pädagogik zu machen und gute Arbeitsbedingungen zu erkämpfen. Beides konnte ich mit der GEW angehen.

Ein Zeitsprung ins Jahr 2015: Sie wurden, während der Streiks im Sozial- und Erziehungsdienst
lief, im »Morgenmagazin « interviewt. Eine junge Künstlerin, mit Kind zu Gast im Studio, hat scharf kritisiert, die GEW würde auf Kosten der Eltern streiken und Familienexistenzen gefährden. Ärgert das
die Gewerkschafterin oder die Feministin Marlis Tepe mehr?

Das ist nicht trennbar. Frauen und Männer haben gleiche Rechte, den gleichen Wert. Das Recht auf einen guten Arbeitsplatz hat jeder Mensch. Frauen haben immer noch schlechtere Arbeitsbedingungen, weltweit, aber auch in Deutschland, aber wir haben hier auch viel erreicht. Deswegen halten Frauen,
die 20 oder 30 Jahre jünger sind als ich, vieles für selbstverständlich, was für mich, als ich so alt war wie sie, absolut nicht selbstverständlich war. Das erfordert manchmal Geduld, wir kämpfen noch immer an vielen Punkten an den gleichen Stellen. Den Älteren unter uns, die damals die Frauenbewegung
mitgeprägt haben, die jetzt um die 70 Jahre alt sind, fehlt manchmal die Geduld, immer noch weitermachen zu müssen. Aber ich glaube, wir müssen weitermachen. Noch sind wir nicht da,
wo wir hin wollen.

Ost-Gewerkschafterinnen haben nach der Wende geschrieben, Errungenschaften, die in der DDR Normalität waren, wurden nach der Einheit abgeschafft. Welche Erfahrungen haben Sie in der Wendezeit gemacht?
Ich war Vorsitzende des Bundesfrauenausschusses der GEW und damit Mitglied im DGB-Bundesfrauenausschuss. Und ich hatte die große Chance, zu einem Ost-West-Kongress auf dem Petersberg einzuladen, zu dem hochrangige Politikerinnen und Lehrerinnen aus Ost und West kamen.
Wir haben als Ost-West-Pärchen über unsere Vorstellungen und Erfahrungen miteinander gesprochen – und haben bemerkt, wie unterschiedlich diese sind. Meine Tandempartnerin sprach von ihrer Mutter oder von Frauen als Muttis. Da gingen mir die Nackenhaare hoch. Das konnten die Ostfrauen nicht verstehen. Für mich war das furchtbar, es war ein Kleinmachen und eine Verniedlichung. Ein anderes Beispiel: Meine Eltern wählten immer schon CDU. Die fanden das nicht witzig, dass ich links geworden
bin und Gewerkschafterin. Für Ostfrauen war die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft selbstverständlich. Trotz gleicher Sprache hatte das Wort Gewerkschaft sehr verschiedene Bedeutungen. Das Gespräch über unsere Biografien hat uns geholfen, unsere unterschiedlichen Lebenserfahrungen besser zu verstehen. Sicherlich hatten die Frauen in der DDR mehr Gleichheitsrechte: in der Arbeit, im Verdienst – aber im Politbüro habe ich wenig Frauen gesehen. Da gab es keinen Unterschied zur Bundesrepublik. Nachdem die Einheit da war, haben die Frauen aus Ostdeutschland verstanden, warum es im Westen so viel schwieriger war, gleichzeitig Mutter zu sein und arbeiten zu gehen. Jetzt versuchen wir das, was in der DDR gut war – Kindertagesstätten und Ganztagsschulen – immer weiter umzusetzen, verbunden mit dem starken Wunsch nach hoher Qualität in diesen Einrichtungen.

Was halten Sie vom Lohngleichheitsgesetz von Frau Schwesig?
Ein erster Schritt, mehr nicht. Der vorliegende Entwurf betrifft Unternehmen ab 500 Beschäftigten. Aber
Lohndiskriminierung passiert gerade in den kleineren und mittleren Betrieben.

Welche nächsten Schritte stehen bei der GEW auf der To-do-Liste?
Bildung ist Mehrwert, dem muss die Politik Ausdruck verleihen, damit das keine Sonntagsreden bleiben, wie es bei allen Parteien weitgehend der Fall ist. Wir bekommen die Schuldenbremse, und Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) erklärt die schwarze Null zum Dogma. Das hat dazu geführt, dass zu wenig Geld für Bildung ausgegeben wird. Dafür bekommen wir jetzt die Quittung: In der Konkurrenz um die besten Köpfe entscheiden sich zu wenige junge Menschen, Lehrerinnen und Lehrer
zu werden. In fast allen Bundesländern werden wir nach den Sommerferien feststellen, dass nicht alle Stellen mit ausgebildeten Lehrkräften besetzt werden können und dass es nicht gelingt, für scheinbar unattraktive Standorte gut qualifizierte Kolleginnen und Kollegen zu gewinnen. Deshalb braucht es eine Grundüberzeugung, dass mehr Geld in die Bildung fließt. Wir brauchen keine Neiddebatte, sondern die Menschen müssen den Parteien sagen: Wir brauchen gute Bildung, bessere Bildung, qualifizierte ErzieherInnen, wir brauchen kleinere Kitagruppen, wir brauchen in der Schule mehr Differenzierungsmöglichkeiten und wir brauchen natürlich im Moment auch unheimlich gutes Personal für Integrationskurse – auch so ein Frauenarbeitsplatz, der extrem schlecht bezahlt wird.

Beim Blick in den Koalitionsvertrag: Welche Note geben Sie Schwarz-Rot gemessen an dem,
was sie für die Gleichstellung erreicht haben?

So viel steht da ja gar nicht drin. Insofern denke ich, war das in Ordnung. Wir müssen darauf drängen, dass ein nächster Koalitionsvertrag qualitativ besser wird und wir dann mehr erreichen für Frauen. Deshalb: eine Drei minus.

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