nd-aktuell.de / 30.08.2016 / In eigener Sache

»Jetzt muss ich nur noch den Hotspot finden«

Knapp dem Super-GAU entgangen, produziert »nd« einen Doppelgänger seiner selbst

Regina Stötzel
Manchmal ist blitzartig alles anders. Nicht, was Sie jetzt denken. Lottogewinn, Schicksalsschlag, Liebe auf den ersten Blick, Schokocroissants ausverkauft oder so. Sondern wirklich blitzartig. Weil der Blitz persönlich, der alte Schelm, zugeschlagen hat.

Auf dem Gang ist es hektisch. »Hast du schon gehört?« Alle verfügbaren Tischventilatoren stehen vor dem Serverraum, in dem Temperaturen herrschen wie in einer finnischen Sauna. Nur der Minze-Limette-Aufguss fehlt – und alles, was Journalisten heutzutage zum Arbeiten brauchen: Internet, Telefon, Redaktionssystem, E-Mail-Programm … Auch die Druckvorstufe MVVG im Erdgeschoss, die die Zeitungsseiten gewöhnlich für die Druckerei aufbereitet, kann nicht arbeiten; das Internet im ganzen Haus ist ausgefallen. Houston, wir haben ein Problem. Wir sind abgeschnitten von der Welt. Super-GAU. Tatsächlich war der Server quasi vor der Kernschmelze. Aber eben nur kurz davor. Also doch großes Glück im Unglück? Ist was zu retten und wenn ja wie viel?

Nach dem ersten Schock erfolgt die Bestandsaufnahme: Per Mobiltelefon ist die Außenwelt zu erreichen. Drei Laptops mit UMTS-Sticks werden in den Ressorts verteilt. Zwar sind die Rechner auf den Stand von besseren elektrischen Schreibmaschinen zurückkatapultiert, aber Texte können abgespeichert und per Stick weiter befördert werden. Die Kollegen von dpa stellen freundlicherweise neue Zugänge zum Nachrichtenticker zur Verfügung, der über die Laptops abgerufen werden kann. Als die Passwörter ausgedruckt werden sollen, tut‘s der Drucker nicht. – Aber dann fehlte doch nur Papier.

»Meinst du nicht, dass es wieder kommt? Demnächst?«, fragt eine Kollegin, die eine fertige Seite im lahm gelegten System liegen hat. Nein, wohl eher nicht. »Irgendwie bringt das alles nichts, ich spiel jetzt erstmal mein Murmelbahnspiel«, verkündet ein anderer. Ein dritter hackt auf seinem Telefon herum: »Jetzt muss ich nur noch den Hotspot finden. Jetzt muss ich nur noch den Hotspot finden. Jetzt muss ich nur noch ...« Hätte das Haus genauso gut abbrennen können? Ist nun der Blitz ins Haus oder in den Server eingeschlagen? Haben wir denn keinen Blitzableiter? Und wo ist der Wissenschaftsredakteur, der uns all das erklären könnte? Auf dem Flur plaudert man über vergebliche Kontaktversuche nach draußen und wer wann in die Redaktion geschlurft kam, als andere schon in Aufruhr waren. Schier verzweifelt soll ein Kollege sein, der von zu Hause versucht hatte, sich per Telefon krank zu melden. Eine Tür fliegt auf, der Geschäftsführer und der Chefredakteur eilen herein. »Was schenken wir Katrin? Einen Server?« Ein Rätsel.

Redakteure telefonieren mit ihren Handys. »Hier geht gar nichts.« Aber irgendwie dann doch. In der Sportredaktion informiert man sich über Teletext, denn die Fernseher laufen. Die Kollegin von der Fotobearbeitung wartet darauf, dass ihr Bildbearbeitungsprogramm geladen wird. Angeblich soll das klappen, bloß ist viel Geduld erforderlich. Sitzungen finden an neuen Orten statt, Kolleginnen arbeiten an anderen Arbeitsplätzen als sonst, obwohl die Räume gar nicht kaputt sind. Man glaubt es nicht: Es gibt Texte, die können trotz allem entstehen. Exklusiv, ohne Google und Wikipedia, weil echte Redakteure echten Ereignissen beigewohnt haben. So etwa der Kollege,der sich das Fantasy-Film-Fest reingezogen hat. Und es gibt Raum für Neues: »Wir nutzen die Gelegenheit, um mal ganz viel Unsinn in die Zeitung zu bringen«, schlägt der eine vor. »Man kann endlich wieder mit Papier arbeiten!«, freut sich der andere.

»Hat irgendeiner ’ne Ahnung, was in der Welt passiert ist?« Erstaunlicherweise sogar das. Texte, die auf dem kaputten Server liegen, werden in ausgedruckter Form gefunden und können abgeschrieben werden. Weitere werden per Mail erwartet. Manche Telefonnummer ist doch nicht nur auf dem Server gespeichert, externe Kolleginnen und Kollegen sind informiert. Alle Mails gehen an den Chefredakteur. »Ich bin hier das Postamt«, ruft der. Der Geschäftsführer erklärt, es würden »Verbindungen gebastelt«. Andere sehen schon den Marketingchef zum Druckhaus Schöneweide nach Neukölln fahren. Wie früher.

Die IT-Experten geben per Telefon geheimnisvolle Nummerncodes an irgendwelche Instanzen durch. Sie anzusprechen wagt derzeit niemand. Fremde Menschen pilgern in den Server-Raum. Alle haben Smartphones in der Hand.

Das Internet funktioniert danneben doch als erstes, wenn man so will. nd-online, genauer gesagt. Zum Glück geht ja das Internet anderswo noch, da sitzen Kolleginnen an ihren Rechnern zu Hause und arbeiten an der digitalen Ausgabe, einer im Haus, der eines der begehrten Laptops abbekommen hat, koordiniert, was die Redaktion produziert.

Mobiltelefone werden an die Rechner angeschlossen, Kollegen lernen die eine oder andere Fähigkeit ihrer technischen Geräte staunend kennen. Bluetooth-Verbindungen tun sich auf, von denen man nichts geahnt hatte, Fenster sind weg und wieder da. Andere suchen immer noch nach UMTS-Sticks, die noch übrig sein könnten.

Unglaubliches passiert: Ein Anruf aus Houston, nein, Hamburg. Eine Nachrichtenagentur will eine Meldung über den Blitzeinschlag machen. Das Telefon geht also wieder. »Kann es sein, dass wir E-Mails kriegen? Ich habe eine von 10.24 Uhr«, sagt ein Kollege. Nein, das kann eigentlich nicht sein. Die Redakteurin, die die Zeit der Ungewissheit für Einkäufe genutzt hat, berichtet, auf der Straße rufe man sich schon zu: »Beim ›nd‹ hat der Blitz eingeschlagen!«
Genau. Und so erscheint »neues deutschland« als eine Art Doppelgän ger seiner selbst. Weil die Dateien mit dem echten Layout unzugänglich sind, werden neue Dateien in einem anderen Programm gebaut, die fast genauso ausehen. Für die Notausgabe kommt einiges zusammen. Aus acht Seiten werden schnell zwölf. Die neue Seiten folge klebt an den Türen. Eine Produktnummer wird gefunden und die Gunst der Stunde genutzt: alles in Bunt!

Am frühen Nachmittag kommen beruhigende Nachrichten aus der IT-Abteilung. Der Blitz hat doch nicht die Server zerlegt, sondern nur den Klimatauscher auf dem Dach. Der hat warme statt kalter Luft in den Serverraum geleitet, weshalb dort – man muss sich das vorstellen wie seinerzeit im ICE – die lokale Kühlung kaputtging und die Temperatur stieg und stieg, bis sich die Maschinen abschalteten. Nun muss das Innerste des »nd«, das stark an den Maschinenraum eines kleineren Containerschiffs erinnert, allmählich wieder zum Leben erweckt werden. Für morgen besteht Hoffnung auf eine normale Ausgabe, verkündet der IT-Chef erschöpft, aber glücklich.

Die Ventilatoren-Armada ist schon abgerückt und steht neben dem Kicker-Tisch wie bestellt und nicht abgeholt. Die Hektik legt sich, die Notausgabe läuft.

Hier zum Herunterladen: Die zwölfseitige Havarieausgabe vom 30. August 2016.[1]

Links:

  1. http://www.nd-aktuell.de/downloads/nd_30082016_b_low.pdf