Das Wort, nach innen genäht

Wiedergelesen: »eines jeden einziges leben« - Gedichte von Reiner Kunze

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Mit Dichtung hat es auf sich, was der Lyriker Karl Krolow einmal notiert hat: Es gibt, wenn man schreibt - und auch, wenn man liest! - jene hellen Glücksmomente, die Momente des Übermuts sind. Augenblicke, in denen man unbedacht genug ist, auf eine Nachtigall zu warten, die zwischen den Zeilen singt. Gedichte sind dann nicht einfach nur Verse, sondern eine Form von - Gelingen. Genau so, wie Menschen gewissermaßen aus heiterem Himmel Gott begegnen, und wir anderen schütteln ungläubig den Kopf, genau so kann einer dem Gelingen begegnen. In der Musik geschieht das regelmäßig; man muss nur Bach hören. Auch im Gedicht können wir in eine andere, eine gelingende Zeit geraten - in der die Welt plötzlich nicht mehr von den schweren Gliedern der Realität bewegt wird. In jener anderen Zeit des Gedichts geschieht, dass wir etwas Wahrhaftiges spüren, etwas Unverfälschtes, etwas Unabgelenktes. »Entlang dem staunen/ siedelt das Gedicht, da/gehn wir hin// Von niemandem gezwungen sein, im brot/ anderes zu loben/ als das brot«.

Verse aus einem der schönsten Gedichtbände von Reiner Kunze aus dem Jahre 1986: »eines jeden einziges leben«. Stücke über Friedhöfe und den Regen, über Handwerker und Heimat, über das Morgengrauen und den Himmel von Jerusalem, über Bittgedanken und Edvard Munch. In allem jene Tonart, die eine Kostbarkeit erzählt: das Ich. Die Gedichte singen das Glück, Ich zu werden; sie singen die Gefahr, wenn man Ich bleiben möchte.

1977 verlässt der 1933 in Oelsnitz geborene Bergarbeitersohn Kunze mit seiner Familie die DDR, er lebt seither in Bayern. Nach frühem, praktiziertem Idealismus, der in die SED-Mitgliedschaft führte: Erschrecken und Widerruf. Nun arbeitete sich an ihm aller Hass, alle Schikane, alle Beeinträchtigung ab, zu der die staatliche Verfolgungssystematik fähig war. 1973 war zwar bei Reclam noch Kunzes »Brief mit blauem Siegel« erschienen, aber die traurige Gnade des Weggangs, dem wegen Westveröffentlichung des Buches »Die wunderbaren Jahre« ein Ausschluss aus dem DDR-Schriftstellerverband vorausgeht, ist wohl schon zu dieser Zeit nicht mehr abzuwenden. Poesie ist widersetzlich. Sie träumt. Aber illusionslos. Das ist das harte Brot der Dichtung: Sie möchte als Einbildungskraft Schmerzen lösen, kann dies aber oft nur erreichen durch schmerzendes Ausgesetztsein in kruden Realitäten. »Ihre fahnen schlugen unsre ideale in den wind/ und wir heißen fahnenflüchtig weil wir/ den idealen treu geblieben sind«. Ein leiser Dichter, ein sanfter Dichter, aber die Stirn, die er bietet, lässt doch auf Grundhärte schließen. Der Panzer ist nicht Eisen, er heißt Gedächtnis. Kunze hat gelebt, was mürbe machte, und es ist wohl wahr: Immer der Furchtsamste fährt die herbsten Stacheln aus. Tut es mit der Rechtmäßigkeit eines Machtlosen, der seine Erfahrungen zu entwürdigen nicht bereit ist. Wenn Kunze redet und schreibt, so ist dies ein Tonikum für alle, denen es an Durchblutung mit Vergangenheit mangelt. Kunze lesen: das ist glückhafte Kapitulation - du unterwirfst dich einem Ton, der dir bis eben gefehlt hat. Der dich stärker macht, als die Wirklichkeit zulassen möchte. Der also lebensrettend in dir anschlagen kann. Grandiose Verse über Musik schrieb er, darin Gott erfahren könnte, dass er besagten Komponisten wie Bach (oder Mozart) alles verdankt. »Im gehör/ feingesponnenes silber, das mit der zeit/ schwarz werden wird// Eines tages aber wird die seele/ an schütterer stelle/nicht reißen.« Dieses Gedicht heißt »Nach einem Cembalokonzert«.

Ein sphärischer Dichter, der die Entfernungen zwischen Menschen für verringerbar hält. Dies aber, ohne je dem dunklen Gesetz der Dinge, das uns trägt, zu nahe treten zu wollen. Im Dunklen ist alles vorstellbar - vielleicht ist Literatur ein blindes Sehen: Die Welt zeigt sich, weil ein Mensch nur nach ihr tastet, statt nach ihr zu greifen. Die Unsicherheit nimmt das Zutrauen an die Hand und ordnet nichts ein, bevor nicht Berührung stattfand. Kunze tastet. Mit den Jahren hat sich diese lakonische, minimalistische Dichtung, die auf Orientierung und Position im Leben aus ist, mehr und mehr ins Geheimnis des Unausgesprochenen gewagt. Ins Religiöse? Poesie ist für Kunze etwas Frommes, weil das Leben uns frommen möge. Was da frommen, also nutzen soll? Das Ja zum Dasein. Dieses Leben darf niemand, will er Mensch bleiben, auf eigene Rechnung führen, aber kompromisslos muss er es - so der Titel eines früheren Gedichtbandes - »Auf eigene Hoffnung« tun.

»Die synagoge, schien's, zog ihren schwarzen mantel/ enger, das wort/ nach innen genäht«. Das ist sie, die ganze geistige Rettungstechnik aus Mystifikation und religiösem Überbau: Wir glauben - weil wir nicht fertig werden würden mit der Erkenntnis dessen, was wir wirklich sind. Wir benötigen den Schutz einer Idee, die uns steigert.

Kunzes Kristallblitze aus Versen wissen um den Preis, den es kostet, sich nicht brechen zu lassen, sich nicht verlocken zu lassen von gar zu vernünftigem Denken - das unfähig machen kann, das »gebrochene Ich« (Benn) als Gewinn zu empfinden. Wie die gebrochene Liebe. Gewinn, der sich zum Alter hin vermehrt? Wahrscheinlich. Wirklich alt bist du erst dann, wenn du verlernt hast, dich selbst zu belügen. Für seine Frau schreibt der Dichter: »Stirb früher als ich, um ein weniges/ früher// Damit nicht du/ den weg zum haus/ allein zurückgehn mußt«.

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