Wenn wir nicht nachgeben

Statt gefährlicher Illusionen über den Lexit: Die europäische Linke braucht eine progressive, internationalistische Agenda

  • Yanis Varoufakis
  • Lesedauer: 10 Min.

Innerhalb von 13 Monaten haben zwei Referenden nicht nur auf EU-Ebene, sondern auch unter der europäischen Linken für Aufruhr gesorgt: das griechische »OXI« (Nein) im Juli 2015 und der Brexit im Juni 2016. Müde vom autoritären Gebaren und dem wirtschaftlichen Versagen der EU, ruft ein Teil der europäischen Linken jetzt zu einem »Bruch mit der EU« auf, eine Haltung, die gemeinhin als Lexit bekannt ist. DiEM25, die transnationale Bewegung für Demokratie in Europa (Democracy in Europe Movement), weist die Logik der Lexit-Position zurück und bietet den progressiven Kräften in Europa eine alternative Agenda.

Zweifelsfrei hat die Linke die Pflicht, mit all ihrer Kraft und Fantasie der EU-Praxis der Entpolitisierung der politischen Entscheidungsfindung entgegenzutreten. Die Frage ist dabei nicht, ob die Linke mit dem EU-Establishment und deren Vorgehensweise auf Konfrontationskurs gehen muss. Die Frage ist vielmehr, in welchem Kontext dies geschehen muss und im Rahmen welches übergreifenden politischen Narrativs. Drei Möglichkeiten stehen zur Auswahl.

Option 1: Reform der EU, »mehr Demokratie«, »mehr Europa«

Diese meist von Sozialdemokraten favorisierte (und stark im Rückzug begriffene) Option zielt auf eine Reform der EU und glaubt, dass es hierfür unter anderem »mehr Demokratie«, »mehr Europa« und eine Reform der EU-Institutionen bedarf. Diese Option gründet auf einem Irrglauben: Die EU leidet nicht an einem Mangel an Demokratie, der sich durch »ein bisschen mehr Demokratie« und ein paar Reformen hier und dort reparieren ließe. Wie ich jüngst in einem Buch argumentiert habe, wurde die EU absichtlich als demokratiefreie Zone konstruiert, darauf ausgerichtet, den Demos aus den Entscheidungsprozessen auszuschließen und diese einem Kartell der europäischen Großunternehmen und dem Finanzsektor zu überlassen. Zu behaupten, die EU leide an einem Mangel an Demokratie, ist, als würde sich eine Astronautin auf dem Mond über den Mangel an Sauerstoff beschweren ...

Zur Reform der EU-Institutionen ist das Standardprocedere von Verhandlungen zwischen Regierungen und schrittweisen Änderungen an den Verträgen nicht geeignet. Die Rufe nach »mehr Europa« sind fehlgeleitet, denn unter der heutigen EU und ihren Institutionen können »mehr Europa« und schrittweise Reformen nur zu einer Formalisierung und Legalisierung eines Europas der Sparmaßnahmen, einer »Sparunion«, führen, einen Kurs, den ich den Schäuble-Plan nenne. Dies wiederum wird die Krise für die Schwächsten in Europa verschärfen, die Attraktivität der extremen Rechten erhöhen und ohne Zweifel das Auseinanderfallen der EU beschleunigen. Trifft diese Annahme zu, wovon ich überzeugt bin, dann bleibt uns Demokraten nur die Möglichkeit, die direkte Konfrontation mit dem EU-Establishment zu suchen. Dies bringt uns zur zweiten und dritten Option.

Option 2: Lexit - die EU verlassen

Die zweite Option ist natürlich, die EU zu verlassen. Ein eloquenter Vertreter dieses Standpunkts ist Tariq Ali. In einem nach dem Brexit verfassten Beitrag beschreibt Stathis Kouvelakis diese Position folgendermaßen: »Wir müssen das Spiel mit den Referenden spielen und eine Hegemonie der Kräfte der extremen und nationalistischen Rechte verhindern, die den Aufstand in eine falsche Richtung lenken könnten«. Kurzum: Wollen wir den Menschenhass der extremen Rechten besiegen, müssen wir in deren Ruf nach Referenden einstimmen, die unseren Nationalstaaten den Weg aus der EU ebnen werden.

Diese Lexit-Option wirft allerdings Fragen auf, insbesondere in Bezug darauf, wie realistisch und integer sie ist. Lässt sich die Agenda der Lexit-Befürworter tatsächlich umsetzen? Und deckt sich eine solche Kampagne überhaupt mit den grundlegenden Prinzipien der Linken? DiEM25 glaubt, dass die Antwort auf beide Fragen Nein lautet.

Früher war die Linke gut in der Unterscheidung zwischen der Analyse von Zuständen und der Analyse von Prozessen. Weil sich Marx‘ Analyse, in Anlehnung an Hegel, mehr auf Prozesse als auf deren Ergebnisse konzentrierte, vermittelte er der Linken nicht nur ein Gespür für die Zustände in der Welt, sondern auch für die Richtung des Wandels. Im Falle der EU ist dies von entscheidender Bedeutung. So kann beispielsweise unsere Haltung, die wir vor der Einrichtung des Binnenmarkts oder der Eurozone eingenommen haben, nach der Etablierung dieser Institutionen nicht bestehen bleiben. Es ist daher überhaupt kein Widerspruch, sich gegen Griechenlands Aufnahme in den Binnenmarkt und/oder die Eurozone zu positionieren und sich gegen ein Referendum über den Austritt Griechenlands aus dem Binnenmarkt und/oder dem Euro zu stellen.

Noch entscheidender ist, dass es dabei einen enormen Unterschied macht, ob unser Ausgangspunkt ein Europa ohne Grenzen ist (in dem Arbeitnehmerfreizügigkeit besteht) oder ob wir uns in einem Europa wie dem der 1950er Jahren befinden, in dem Nationalstaaten die Grenzen kontrollieren und nach Gutdünken neue Kategorien italienischer oder griechischer Proletarier schaffen und als Gastarbeiter bezeichnen.

Dieser letzte Punkt verdeutlicht die Gefahren der Lexit-Position. In der EU herrscht Freizügigkeit, das heißt, die Lexit-Befürworter akzeptieren (oder unterstützen gar aktiv) das Ende der Freizügigkeit und die Wiedereinführung von Grenzkontrollen inklusive Stacheldraht und bewaffneten Grenzbeamten. Angenommen wir könnten die Geschichte zurückdrehen und die Linke würde für ihre Unterstützung des gemeinsamen Binnenmarkts einen allgemeinen Mindestlohn verlangen. Glauben die Befürworter der Lexit-Option dann tatsächlich, dass die Linke heute den Kampf um Hegemonie gegen die extreme Rechte gewinnen kann, indem sie deren Ruf nach neuen Zäunen und einem Ende der Freizügigkeit unterstützt? Ein ganz ähnlicher Punkt ist die Frage, ob nach Meinung der Lexit-Befürworter die Linke, sowohl diskursiv als auch auf der Ebene konkreter Maßnahmen, den Kampf gegen den fossilen Energiesektor gewinnen kann, indem sie die Rückübertragung der Umweltpolitik auf die nationalstaatliche Ebene unterstützt? An beiden Fronten steuert die Linke unter dem Lexit-Banner nach meiner Einschätzung auf katastrophale Niederlagen zu.

Option 3: Der Vorschlag von DiEM25 für einen Aufstand in der EU

Damit kommen wir zur dritten Option: dem Vorschlag von DiEM25. Die Bewegung lehnt sowohl die Rufe der EU-Reformer nach »mehr Demokratie« und »mehr Europa« ab, als auch die von Lexit-Befürwortern geforderte Unterstützung von Referenden zur Abschaffung der EU-Ebene insgesamt und der vollständigen Rückübertragung von Kompetenzen an die Nationalstaaten. Als Gegenvorschlag setzt DiEM25 auf eine paneuropäische Bewegung des zivilen und staatlichen Ungehorsams, die zu einer breiten demokratischen Opposition gegen das Agieren der europäischen Eliten auf lokaler, nationaler und auf EU-Ebene heranwächst.

Bei DiEM25 glauben wir nicht, dass die EU über die üblichen Kanäle der EU-Politik und ganz bestimmt nicht, durch eine Lockerung der »Regeln« zu Haushaltsdefiziten um ein halbes oder ganzes Prozent des BIP (wie es die Regierungen von Frankreich, Italien, Spanien und Portugal tun) reformiert werden wird.

Ohne Zweifel werden uns (den rebellischen Regierungen und Finanzministern, die zur Übernahme der Agenda von DiEM25 gewillt sind) die EU-Institutionen mit Ausschluss, Bankruns, vorübergehenden Bankenschließungen und anderen Maßnahmen ebenso drohen, wie sie der griechischen Regierung (und sogar mir persönlich) 2015 mit einem Grexit gedroht haben. An diesem Punkt ist es entscheidend, sich von der Angst vor einem Rauswurf aus der EU nicht ins Bockshorn jagen zu lassen. Man muss der EU fest in die Augen sehen, wenn man sagt: »Tut, was ihr nicht lassen könnt! Das einzige, dass wir wirklich fürchten, ist euer alternativloses Angebot: die Fortsetzung der Spirale aus Schulden und Deflation, mit der die Massen in Europa in die Hoffnungslosigkeit und damit in die Arme der Fanatiker getrieben werden.«

Wenn wir nicht nachgeben, werden entweder sie nachgeben (in diesem Fall ändert sich die EU), oder die EU wird von ihrer eigenen herrschenden Klasse auseinandergerissen. Wenn das Establishment (die EU Kommission, die EZB, Berlin und Paris) die EU zur Bestrafung der progressiven Regierungen zerreißt, die sich geweigert haben, ihren albernen Programmen Folge zu leisten, wird dies progressive politische Ansätze in ganz Europa auf eine Weise befeuern, wie es Lexit niemals könnte.

Wir sollten die tiefgreifenden Unterschiede zwischen folgenden beiden Szenarien bedenken: Erstens, das EU-Establishment droht progressiven pro-europäischen Regierungen mit Rausschmiss, wenn sie sich weigern, sich der autoritären Inkompetenz der EU zu unterwerfen und zweitens, progressive Parteien oder Regierungen machen gemeinsam mit der extremen Rechten Stimmung für den EU-Austritt.

Das ist der Unterschied zwischen: Erstens, einer Konfrontation mit dem EU-Establishment, die dem Geist des Internationalismus treu bleibt, paneuropäische Aktionen verlangt und uns klar von der extremen Rechten absetzt und zweitens, einem Schulterschluss mit nationalistischen Positionen, die unweigerlich, die extreme Rechte stärken werden, während sie es der EU ermöglichen, die Linke als Populisten zu brandmarken, die sich nur unwesentlich von Nigel Farage, Marine Le Pen und anderen unterscheiden.

Selbstverständlich muss ein Teil der DiEM25-Agenda die Entwicklung von Strategien umfassen, die unseren Städten, Regionen und Nationalstaaten die Möglichkeit gibt, sich gegen das EU-Establishment zur Wehr zu setzen, das mit »Austritt« oder »Rausschmiss« als Vergeltung droht. Ebenfalls sollte die Agenda Pläne beinhalten, was bei einem Zusammenbruch oder einem Auseinanderbrechen der EU zu tun ist, wenn das Establishment dumm genug ist, diese Drohungen gegenüber unfügsamen nationalen Regierungen in die Tat umzusetzen. Dies ist aber etwas gänzlich anderes, als das Auseinanderbrechen der EU zum Ziel der Linken zu machen.

Der traditionelle linke Internationalismus ist neben weiteren grundlegend demokratischen Traditionen verschiedener politischer Projekte (progressiver Liberalismus, Feminismus, Umweltbewegung, Piratenparteien etc.) ein Kernelement von DiEM25. Genau dieser Internationalismus spiegelt sich auch in der Positionierung von DiEM25 zur EU wieder. Meine linken Kollegen erlauben mir hoffentlich, daran zu erinnern, dass Marx und Engels, als sie den Slogan »Proletarier aller Länder vereinigt euch« prägten, weder die Bedeutung nationaler Kulturen noch die des Nationalstaats negieren wollten. Sie lehnten lediglich die Idee eines »Nationalinteresses« ebenso ab wie die Vorstellung, dass soziale Kämpfe der Ebene des Nationalstaats den Vorrang geben müssen. Auch Gramsci teilte diese Auffassung.

Frech könnte man schließlich fragen: »Warum bei der EU-Ebene halt machen? Wenn ihr Internationalisten seid, warum dann keine Kampagne für globale Demokratie?« Unsere Antwort darauf lautet, dass wir für Demokratie überall und auf Grundlage eines internationalistischen Standpunkts eintreten. So ist DiEM25 gerade dabei, starke Verbindungen zu Bernie Sanders »politischer Revolution« in den USA zu etablieren und hat Mitglieder in Lateinamerika, Australien und sogar Asien. Ob zum Guten oder zum Schlechten sei dahingestellt, aber die Geschichte hat uns eine EU ohne Grenzen vermacht. Es gibt eine gemeinschaftliche Politik in Feldern wie Umwelt und die (per definitionem internationalistische) Linke ist verpflichtet, diese Abwesenheit von Grenzen genauso zu verteidigen wie die gemeinschaftliche Klimapolitik und auch Dinge wie das Erasmusprogramm, das es jungen Europäern ermöglicht, in einem grenzüberschreitenden Bildungssystem zusammenzukommen. Sich gegen diese Errungenschaften einer ansonsten rückschrittlichen EU zu stellen, ist mit einer im eigentlichen Sinne linken Position nicht in Einklang zu bringen.

Die EU befindet sich in einem fortgeschrittenen Stadium der Auflösung. Entweder sie ist (noch) zu retten, menschlicher zu gestalten, oder es besteht bereits keine Hoffnung mehr und ihre Auflösung ist sicher. In beiden Fällen begehen progressiv Denkende einen großen Fehler, wenn sie den Kampf um Demokratisierung aufgeben (und den EU-Austritt und deren Auflösung zu einem Ziel an sich machen), denn dies kann nur in die Hände der Rechtsextremen spielen.

Was sollten Progressive also tun? DiEM25 schlägt vor, erstens: europaweit energisch für eine demokratische Union gemäß internationalistischer und grenzüberschreitender Prinzipien agitieren, selbst wenn wir nicht glauben, dass die EU in ihrer derzeitigen Form überleben kann oder sollte. Zweitens: die Inkompetenz des autoritären EU-Establishments offenlegen. Drittens: zivilen, bürgerlichen und staatlichen Ungehorsam europaweit koordinieren. Viertens: durch die Strukturen von DiEM25 aufzeigen, wie eine paneuropäische Demokratie auf allen Ebenen unabhängig vom Rechtssystem funktionieren kann. Fünftens: gemeinsam in den nächsten 18 Monaten die umfassende progressive Agenda von DiEM25 für Europa entwickeln, die vernünftige, bescheidene und überzeugende Vorschläge zur »Reparatur« der EU (und sogar des Euros) und für einen progressiven Umgang mit dem Zerfall der EU und des Euros umfasst, wenn und falls das Establishment diesen Weg gehen sollte.

Übersetzung: Tim Jack

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