Die Angst ist fast greifbar

Marcela Turati über die gefährliche Reise der Migranten durch Mexiko

  • Lesedauer: 3 Min.

Sie schreiben regelmäßig über die Situation von Migranten an der Südgrenze Mexikos und über das Verschwinden der 43 Studenten aus Ayotzinapa. Welche Bedeutung haben diese Themen in Mexiko?

Die Situation an der Südgrenze Mexikos ist fürchterlich und es gibt nur wenig Berichterstattung über den Umgang mit den Migranten aus Honduras, El Salvador oder Guatemala. Das ist ein Defizit, denn die Gewalt gegenüber den Migranten hat zugenommen: Es wird ihnen immer öfter verwehrt, auf die Züge nach Norden aufzusteigen. Dafür sind die Militärs und Polizisten verantwortlich, die in den Süden verlegt wurden. Nun verläuft die Südgrenze der USA nicht mehr in Tamaulipas und Chihuahua, sondern in Chiapas. Die Migranten werden verfolgt - von den Behörden, manchmal aber auch von den Farmern, die mit der Machete in der Faust Migranten vertreiben, die zu Fuß unterwegs sind.

Warum berichten Sie über diese Menschen, die am schwächsten sind: Frauen, Kinder, Homo- und Transsexuelle auf der Flucht in ein besseres Leben?

Das war ein ganz normaler Prozess. Ich habe mich schon früh für die soziale Situation, für die öffentliche Politik interessiert und meine Themen in der Redaktion waren Armut und deren Ursachen und soziale Bewegungen. Als der Krieg gegen die Drogenmafia dann 2006 ausgerufen wurde, habe ich beobachtet, welche Folgen die Militarisierung in Ciudad Juárez und im Bundesstaat Chihuahua hat. Es war eine spontane Entscheidung, mit den Opfern dieses Krieges zu sprechen, zu berichten, zu informieren.

Und zu den Opfern gehören die Migranten?

Ja, auch sie. Seit 2008 sind die Auswirkungen des Krieges gegen die Drogenmafia mein zentrales Thema und ich spreche mit den Waisen, den Witwen, den Opfern, die oftmals keine Stimme haben. Es ist eine Realität, dass wir nie über die Angehörigen der Ermordeten, die Frauen, die Kinder berichten - deren Geschichte versuche ich, zu erzählen. Das war der Ausgangspunkt und von dort bin ich dann auf die Situation der Migranten gestoßen, habe über deren Ermordung, deren Versklavung als Erntehelfer, als Drogenkuriere geschrieben. Manchmal fühle auch ich mich wie eine Kriegsreporterin im eigenen Land.

Sie haben unlängst in Oaxaca recherchiert, mit Migranten gesprochen, die es bis dahin geschafft haben. Welchen Eindruck haben Sie?

Die Angst ist fast greifbar, denn die Leute haben begriffen, wie gefährlich die Reise ist. Früher hielten sich viele nur drei Tage zur Erholung in einer Herberge auf. Heute warten sie manchmal drei Monate - in der Hoffnung, ein humanitäres Transitvisum zu bekommen. Das schützt zumindest gegen staatliche Willkür.

Welche Erfahrungen haben Sie mit Minderjährigen gemacht?

Es gab immer Mütter mit ihren Kindern auf der Strecke, aber die Zahl der Halbwüchsigen, die allein unterwegs sind, steigt stetig. Lange waren allein reisende Kinder und Heranwachsende kaum sichtbar, niemand hat sie wahrgenommen, bis deren Zahl immer weiter stieg. Seitdem sind sie ein Thema und die Initiative von Padre Solalinde, eine Herberge nur für Minderjährige zu eröffnen, zeigt, wie gravierend die Situation ist.

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