»Ein Boom der Linken ist kurzfristig nicht absehbar«

Mauricio Archila über das Friedensabkommen von Havanna, die Perspektiven der Guerilla als Partei und die Gewalt der extremen Rechten

  • Lesedauer: 3 Min.

Die Freude in Kolumbien ist angesichts des erfolgreichen Endes der Friedensgespräche groß. Teilen Sie diesen Enthusiasmus?
In gemäßigter Form ja. Ich teile nicht die Ansicht, dass sich Kolumbien nach der Unterzeichnung des Friedensvertrages am 26. September in ein Land aus Milch und Honig verwandeln wird. Aber die Wiedereingliederung der größten Guerillagruppe ist ohne Zweifel das wichtigste Ereignis nach fast 70 Jahren der Gewalt. Zwar sind die in Havanna getroffenen Vereinbarungen sicher nicht das Nonplusultra, aber sie können viele wichtige gesellschaftliche Prozesse anstoßen und jene Aspekte beseitigen, die ursächlich für die politische Gewalt waren. Besonders die soziale Ungleichheit und der Ausschluss vieler Bevölkerungsteile von politischen Entscheidungsprozessen.

Welche Chancen ergeben sich dank des Friedensprozesses für die sozialen Bewegungen im Land?
Die Leute in den unterschiedlichen sozialen Bewegungen haben seit Jahren verschiedene Forderungen gestellt, beispielsweise was staatliche Unterstützung oder die Mitbestimmung darüber betrifft, was in ihren Territorien wirtschaftlich geschehen soll und was nicht. Durch den Friedensprozess kann mittelfristig ein Klima für Veränderungen geschaffen werden, bei dem die sozialen Organisationen mittels Mobilisierungen und Initiativen von der lokalen bis zur nationalen Ebene eine Neugestaltung des institutionellen Gefüges erreichen, um den Frieden nach ihren Vorstellungen gestalten zu können.

Mauricio Archila

Der Sozialhistoriker Mauricio Archila forscht zur Geschichte der kolumbianischen Linken und leitet den Bereich »Soziale Bewegungen« am Forschungs- und Bildungsinstitut CINEP in Bogotá. Mit Archila sprach für »nd« David Graaff über die Chancen und Risiken, die sich für die Linke aus dem Friedensprozess ergeben.
 

Die Existenz einer bewaffneten Organisation galt als Hemmnis für die gesamte Linke Kolumbiens. Wird sie jetzt eine gewichtigere Rolle in der kolumbianischen Politik spielen?
Ein Boom der Linken beispielsweise in Form einer »Frente Amplio« wie in Uruguay ist kurzfristig nicht absehbar. Denn einerseits ist die Rechte immer noch stark und einflussreich. Andererseits gibt es innerhalb der Linken eine ganze Reihe von Vermächtnissen, die sich nicht von heute auf morgen überwinden lassen: Die Spaltung in einzelne Strömungen und Fraktionen, den »Caudillismo« (der Anführer bestimmt, d. Red.), ideologische Differenzen. Momentan sehe ich noch nicht die charismatische Führungsfigur, die die verschiedenen Flügel hinter sich vereinen könnte.

Und langfristig?
Das hängt unter anderem von der Entwicklung der FARC als Partei ab. Es wird sich zeigen, ob sie in der Lage sein wird, ihre soziale Basis in den Regionen aufrecht zu erhalten. Und sie muss undogmatischer werden. Ihr Diskurs wirkt auf mich seit einiger Zeit frischer und ist dem Alltag der Menschen näher als früher. Was aber viel wichtiger ist als Erfolge der Linken an den Wahlurnen, ist, dass sich soziale Organisationen in Kolumbien konsolidieren können.

Allein seit dem Beginn des endgültigen Waffenstillstands vor zwei Wochen sind 13 soziale Aktivisten von Paramilitärs getötet worden. Worin wurzelt die Hoffnung, dass sich die Repression nicht fortsetzt?
Im Vergleich zu früheren Friedensprozessen gibt es drei Aspekte, die ein wenig optimistisch stimmen. Erstens gibt es nun keine Linke mehr, die, wie die FARC seinerzeit, die »Kombination aller Kampfformen«, also gleichzeitig den zivilen und bewaffneten Weg zum Erreichen ihrer politischen Ziele verfolgt. So konnte die extreme Rechte die Tötungen linker Politiker leichter rechtfertigen. Zweitens wurden in Havanna erstmals Mechanismen vereinbart, die den Schutz der Akteure auch von staatlicher Seite gewährleisten sollen. Drittens könnte durch die Beteiligung der Militärs an den Friedensverhandlungen verhindert werden, dass die Streitkräfte sich an der Ermordung beteiligen oder Paramilitärs dabei unterstützen.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal