Das Meer interessiert sich nicht für Zahlen

Eine Reise an Bord der »MS Aquarius«, deren Besatzung Geflüchtete im Mittelmeer vor dem Ertrinken rettet

  • Sebastian Bähr
  • Lesedauer: 8 Min.

Im Hafen von Catania ist die »MS Aquarius« leichter zu entdecken als gedacht. Gegenüber der großen Fähren, direkt neben einem deutschen Kriegsschiff, ragt das 77 Meter lange ehemalige Fischereischutzboot gelassen aus dem Wasser. Der orange angestrichene Rumpf erinnert in der anbrechenden Dunkelheit an eine Warnweste. Eine fünf Quadratmeter große Kabine mit Doppelstockbett wird mein Domizil für knapp zwei Wochen. Platz an Bord ist für 400 Flüchtlinge. Offiziell. Die unbarmherzige Realität des Mittelmeeres hält jedoch nicht viel von solchen Zahlen und Vorgaben: Ende August hat die Besatzung der »Aquarius« beim bisher größten Einsatz 496 Menschen gerettet, darunter sieben schwangere Frauen. Das Schiff und die Besatzung samt Ärzten und Freiwilligen kommen so an Belastungsgrenzen.

Panik muss vermieden werden

Der deutsche Freiwillige Till streckt seine Hand Richtung Osten: »Person im Wasser!«, schreit er laut, auf dem Rand des Gummi-Schnellbootes sitzend. Die anderen Retter stimmen in die Schreie ein. Eine rote Jacke, ein paar Dutzend Meter von uns entfernt. Nun muss alles schnell gehen - und trotzdem ohne Hektik ablaufen. Hektik erzeugt Panik. Und Panik tötet.

Es ist erst einmal nur eine Übung. Aber Panik muss unter allen Umständen vermieden werden: Aufgeregte Flüchtlinge, die sich zu schnell von einer auf die andere Seite ihrer meist schrottreifen Boote drängen, können es zum Kentern bringen. Die Aufgabe der Crew: Lage überprüfen, Vertrauen aufbauen, Rettungswesten verteilen. Einzeln übergeben, bloß nicht werfen: Auch die Angst, keine Weste abzubekommen, kann Panik auslösen.

Die erste Rettung

»Dort ist ein schwarzer Fleck«, murmelt Ferry. Es ist kurz nach halb sieben Uhr morgens. Der Chef des Teams von »Ärzte ohne Grenzen« lässt das Fernglas konzentriert über das dunkle Blau wandern, den ersten Becher Kaffee hat der Hüne mit Vollbart und Cowboyhut bereits vor Sonnenaufgang geleert. »Fischer- oder Militärboote sind eher schwarze Flecken, Flüchtlingsboote eher weiße.« Als ich auf das Wasser blicke, sehe ich nur schäumende Düsternis.

Ferry liegt falsch. Zehn Minuten später werden alle an Bord geweckt, sie ziehen die orangefarbenen Westen über. Auf dem Deck angespannte und übermüdete Gesichter. Nachdem sich unser Erkundungsboot dem »schwarzen Fleck« genähert hat, ein erstes, vorsichtiges Aufatmen: Der Wellengang ist ruhig, das Boot intakt. Dafür sind aber viele Kinder an Bord. »Ein Lächeln schadet nicht«; ruft uns SAR-Chef Johann noch entgegen, danach werden die erschöpften Flüchtlinge in Gruppen von jeweils 18 Menschen an Deck gebracht. Jeder erhält eine Decke, einen Overall, Wasser und 2000-Kalorien-Kekse. Die alte, von Benzin und Salzwasser verätzte Kleidung landet in Müllsäcken. Nur wenn das Rettungsboot wieder ablegt, um neue Flüchtlinge aufzunehmen, ist Zeit für ein kurzes Verschnaufen, auch ich habe meine Kamera längst weggelegt. »Du darfst ihnen nicht in die Augen schauen, dann geht das schon«, sagt der aus Koblenz kommende Anton. Ich frage Eduard, der früher in Frankreich als Seemann und Fischer arbeitete, wie er sich fühlt. Er denkt kurz nach. »Nützlich.«

Das Team der »MS Aquarius« hat an diesem Tag 142 Menschenleben gerettet. Eine Bilderbuchrettung, wie die Helfer sagen. Unter den Flüchtlingen sind acht Kinder, das jüngste erst ein Jahr alt. Am Abend wird von der Koordinierungsstelle in Rom entschieden, dass wir die Flüchtlinge an die italienische Küstenwache übergeben sollen. Nicht jedem gefällt diese Aufgabenteilung. Später an Bord gekommen, erteilt ein italienischer Offizier den Geflüchteten barsch Befehle. »Bei uns geht es ihnen wahrscheinlich besser«, murmelt René von SOS-Méditerranée.

Fluchtgeschichten

Verstörend sind die Erzählungen der Flüchtlinge. Nicht unbedingt während einer Rettung oder kurz danach. Aber wenn die »MS Aquarius« selbst anstelle der Küstenwache Flüchtlinge in knapp 30 Stunden bis nach Sizilien bringt, ist Raum für Gespräche. Es ist eine absurde Situation: In wenigen Minuten mit Menschen, die man nicht kennt, über Folter und Misshandlungen zu sprechen. Dutzende andere Menschen sitzen daneben und hören Menschen zu, die wie sie selbst nur Momente zuvor knapp dem Tod entkommen sind.

Eine Frau erzählt, wie ihre Familie in Kamerun ermordet wurde und sich später in Nigeria Kämpfer der islamistischen Boko-Haram-Miliz an ihr vergangen haben. Mehrmals. Drei Wochen war sie anschließend durch die Sahara gelaufen, um nach Libyen zu gelangen. Sarah von »Ärzte ohne Grenzen« präzisiert: Bevor junge Frauen die Wüste überqueren, nehmen sie oftmals präventiv Verhütungsmittel ein, da sie bereits damit rechnen, auf ihrem Weg vergewaltigt zu werden. Ihre Ehemänner wurden zu diesem Zeitpunkt möglicherweise schon umgebracht, Menschenschmuggler sind ihnen längst auf den Fersen. Später steigen diese Frauen dann in ein Schlauchboot, in denen die Wahrscheinlichkeit zu sterben bei rund 1 zu 19 liegt.

Auch die Männer erleiden oft Schreckliches. Ein Jugendlicher an Bord muss behandelt werden, er wurde vor drei Monaten gefoltert, erzählt er. Seine Geschlechtsteile tragen immer noch Spuren davon, er hat Angst, keine Kinder mehr zeugen zu können. Ein 17-Jähriger klagt über den extremen Rassismus, dem er in Libyen ausgesetzt war. Er sei entführt und geschlagen worden, später habe er unentgeltlich an mehreren Orten arbeiten müssen, um sein »Ticket« für das Schlauchboot zu erhalten. »Sklaverei«, kommentiert die Hebamme Jonquil.

Die Freiwilligen

Ein Rettungsschiff ist nur so gut wie seine Besatzung: Das »Search-and-Rescue«-Team (SAR) an Bord wird von den beiden erfahrenen Verantwortlichen Johann und Ani angeführt. Insgesamt sieben Freiwillige unterstützen sie bei dieser Aufgabe. Franzosen, Briten und Deutsche, darunter Studenten, aber auch Fischer und Seefahrer. Während das Personal von »Ärzte ohne Grenzen« relativ konstant bleibt, unterliegen die SAR-Freiwilligen einer ständigen Fluktuation. Eine »Rotation« auf der »MS Aquarius« dauert drei Wochen, einige der Freiwilligen waren aber auch schon mehrmals dabei. Für die Arbeit auf dem Schiff gibt es eine kleine symbolische Vergütung, doch wegen des Geldes fährt hier niemand mit. Die Freiwilligen mögen sich erst ein paar Tage kennen, doch zwischen ihnen herrscht bereits Vertrautheit: Man passt aufeinander auf.

Faith heißt Vertrauen

Auf dem Meer schlagen Gefühle oft aus wie bei einem verrückt spielenden Pendel. An einem Tag Verzweiflung, Hysterie, manchmal auch Sterben - der nächste bringt Hoffnung.

Die erste gute Nachricht an diesem Tag zeichnet sich schon während des Sonnenaufgangs ab - mit einem lauten Schrei. Viktoria von »Ärzte ohne Grenzen« hat bei den Frauen Nachtschicht. Als bei der aus Nigeria kommenden Faith Wehen immer stärker werden, rennt sie zur Kabine der Hebamme Jonquil. »Jetzt, sofort«, schreit sie und hämmert gegen die Tür. Schon eine halbe Stunde später hält die stolze Mutter einen kleinen Sohn in ihren Armen: Die Geburt verlief ohne Komplikationen. Als Vater Otis von der Nachricht erfährt, wirkt er für einen kurzen Moment wie erschlagen. Und alle fragen, wie das Kind denn nun heißen soll. »Newman« wird dann nach Diskussion von den Eltern entschieden. Kapitän Alexander Moroz überreicht in einer kleinen Zeremonie die Geburtsurkunde - in Uniform und kurzen Shorts

Am späten Vormittag werden von einem Schiff der italienischen Marine über Hundert weitere Flüchtlinge an die »MS Aquarius« übergeben. Als die Frauen und Kinder unter den Neuankömmlingen in den Schutzraum gebracht werden, beginnt ein Mann auf der Brüstung, eingeklemmt zwischen anderen Schutzsuchenden, sich auf einmal zu freuen. Sein Gesicht zeigt Dankbarkeit und Unglaube: Victor wird von seiner Frau und seinen zwei Söhnen bei der Abfahrt der Schlauchboote am libyschen Strand getrennt. Mehrere Tage hatten sie sich in Sandkuhlen versteckt und abgewartet. In der Nacht der Abfahrt tauchen plötzlich libysche Kämpfer mit Waffen auf, schießen in die Luft. Alle rennen nun, in Panik und in der Dunkelheit, ins Wasser, zum ersten Boot, das sie erreichen konnten. Victor überlebt. Wie es dem Rest seiner Familie ergangen war, weiß er nicht. Bis er seine Frau und seine Söhne nun vom italienischen Schiff herüberkommen sieht. Bevor er seine Frau, die ebenfalls Faith heißt, in die Arme schließen kann, muss er sich noch ein bisschen gedulden. Erst wenn alle neuen Flüchtlinge an Bord gebracht sind, dürfen die alten auch das Deck betreten. Victor wartet unten. Seine zwei Söhne sehen ihn, strahlen, und rennen auf ihn zu. Seine Frau kommt nach. Der Name Faith bedeutet Glaube und Vertrauen.

Gemischte Gefühle

Ich verlasse die »MS Aquarius« mit gemischten Gefühlen. Die meisten sind aber positiv: Mehrere Hundert Menschen konnten während meiner Zeit an Bord gerettet werden. An einem Ort, der das Leben allzu oft negiert, habe ich erlebt, wie ein neues Leben geschenkt wurde. Getrennte Familien haben an Bord wieder zueinandergefunden, elfjährige unbegleitete Kinder hat man am Boden eines Schlauchbootes gefunden. Um an ihr Ziel zu kommen, nehmen Menschen unvorstellbare Leiden auf sich. Frauen noch mehr als die Männer. Mir bleibt aber der Gedanke, dass ihre Reise noch nicht zu Ende ist. Wir haben sie auf dem Schiff nur auf einer Etappe begleitet. Auch wenn sie nun nicht mehr um ihr Leben fürchten: Einfacher wird es nicht.

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