Die neuen Sterne und die Angst

Berliner Kulturpolitik als Zeichen eines Trends, der bekümmert

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Gedichte finden kaum noch in die Zeitung. Also zunächst: ein Gedicht. »Nach einem Cembalokonzert« von Reiner Kunze: »Im gehör/ feingesponnnes silber, das mit der Zeit/ schwarz werden wird// Eines tages aber wird die seele/ an schütterer stelle/ nicht reißen«. Ein schönes Bild für die Kraft der Kunst, eine Öffentlichkeit nach innen zu bilden, dorthin, wo unser Seelenheil versuchen muss, die Welt auszuhalten. Die Welt auszuhalten, ist etwas anderes, als nur immer ihre Regeln einzuhalten. Kunst ist die Dolmetscherin zwischen den zu vielen Fragen und den zu wenigen Antworten. Kunst verhindert nicht die schweren Erdklumpen unter den Schuhen der Menschen, die sich durch verschlammte Wege in irgend eine erhoffte Freiheit mühen - und doch kann sie beflügeln.

Seltsam zweigeteilte Welt: was auf einer Bühne geschieht - und was dahinter. Die Kunst strahlend, die Kommunität der Künstler umfinstert. Im Scheinwerferlicht Glanz, hinter den Kulissen Elend. Das zeigt ein Blick auf Berlin, derzeit auch eine Hauptstadt der Unästhetik. Beben und Brodeln. Schimpf und Schande im heftigen Austausch. Frank Castorfs Volksbühne geht bald an den belgischen Kurator Chris Dercon: Unmut und Unsicherheit. Das Berliner Ensemble wird in einem Jahr von Oliver Reese übernommen: Claus Peymann sieht das Haus schon jetzt »brennend«. Dem Staatsballett sollen in Zukunft Sasha Waltz und Johannes Öhman aus Stockholm vorstehen: Man ist perplex und protestiert. Die Kulturpolitik des Senats gleicht einem Trümmerhaufen, und immer geht es um Sozialsicherheit und Gesprächsweisen, um Vermittlungskultur und Konzeptionen, um Urteile, die mit den Vorurteilen ums Hoheitsrecht balgen.

Die Kunst, die sensibilisieren möchte, und die Institutionen, durch die ein Kältehauch zieht. Frost im Schlepptau von Wechsel und Wandel - plötzlich ist das Leben nicht mehr nur das Abenteuer, zu dem unter Publikumsbeifall so anmutig oder kämpferisch ermutigt wird. Fluch der Dialektik: Den Betrieben der Kunstausübung, die das Leben lehren möchten, wird da gerade eine Lektion erteilt. Diese Lektion erzählt von unschönen Zuständen, die über die institutionelle Blamage Berlins hinausweisen.

Natürlich geschehen dort, wo neue Leute übernehmen, Umwälzungen. Wo sich Türen öffnen, damit jemand eintrete, darf auch ins Freie gelaufen werden. Endlich!, wird mancher sagen, der im Innenraum vielleicht schon Atembeklemmung bekam. Aber: Das Theater steht mitten auf dem Gemeinplatz, auf dem alle stehen, und dort geht die Rede auch unbarmherzig von den Lockungen und Notwendigkeiten eines völlig neuen »Bindungsmarktes«. Auf der einen Seite muss diese Trendbestimmung verstanden werden als ganz normale Beschreibung des Experimentellen, ohne das eine gesellschaftliche wie individuelle Entwicklung nicht denkbar wäre. Nietzsche sprach vom Privileg, »auf den Versuch hin leben und sich dem Abenteuer anbieten zu dürfen«. Der freie Geist unterwegs; das Ungewisse einplanend, es nicht von vornherein abblockend und nur danach fragend, welche Absicherungen das Leben unbedingt begleiten sollten. Die Widersprüche der Existenz an sich herankommen lassen. Also auch, zum Beispiel, neue Intendanten.

Aber dies ist freilich die schwierigste, risikovollste Form von Leben, für die es keinen Laborraum gibt, der vor bitteren Erfahrungen schützt. Und immer sind es Jüngere, welche die Zeichen einer kommenden Zeit neugierig, zupackend in die Gegenwart hereinholen - während Ältere einen radikalen Strukturwandel in ihrer unmittelbaren Welt als Schrecken, als Aufstörung im Gewohnten, als Überforderung empfinden müssen. Heute mehr denn je, weil man ja nicht schlechthin ins verlockende Freie tritt, sondern auf längst besetzte Felder, wo keiner freiwillig Platz macht. Die Welt der Arbeitsplätze ist belegt, und geführt wird sie von Leuten, die emsig überlegen, wie man diese Welt mit immer weniger Leuten immer effektiver machen kann. Das betrifft Schauspieler wie sehr viele andere Berufe.

Es mussten bislang stets mehrere ungleichartige Intelligenzen verträglich kombiniert sein, damit Leben in einer sozialen Gemeinschaft (auch jedes Theater ist eine soziale Gemeinschaft) möglich wurde. Auf die Unterschiede wird in Zukunft wohl keine Rücksicht genommen werden. Wenn sich Menschen mit den nötigen übergroßen Anstrengungen, die ihren individuellen Energiehaushalt eigentlich überfordern, durchs Arbeitsleben bewegen, kann irgendwann eine verhängnisvolle Nebenwirkung greifen: Es kommt womöglich Unwille auf, die wirtschaftlichen, sozialen Ergebnisse ihrer Leistungen weiter mit jenen teilen zu sollen, die außerhalb der Grundhärte-Gemeinschaft stehen. Im Energiestress der Übermüdeten verflüchtigt sich die Barmherzigkeit zuerst. Das ist das Fitnessprogramm auf dem Arbeitsmarkt, das an Bedeutung für die eigene Ertüchtigung zunahm. Noch stehen auch auf den Berliner Protestpapieren Künstler und technische Mitarbeiter wie eine gemeinsame Front. Noch. Selbstbestimmung ist eine große Kraft, sie befreit, sie ist gerade auch in der Kunst ein Impuls für neue Erfahrungen. Aber jeder aktive Wahlakt am Markt hat sein passives Pendant: das Nicht-gewählt-Werden, das Fallen-gelassen-Werden. Wohin aber wenden wir uns, Schutz und Halt suchend, wenn wir früher oder später zu denen gehören, die nicht mehr dazugehören sollen?

Um nach Berlin zurückzukehren: Das fehlende Charisma der Politiker trifft eben auch die Kulturpolitik, und hier reicht das Blassbild in jüngerer Geschichte - Thomas Flierl ausgenommen - zurück bis Radunski oder Radonski oder Radieski, oder wie immer der vergessene Zigeunerbaron der CDU hieß. Welch ein Theater ums Schillertheater, ums Intendanten-Ende von Thomas Langhoff am Deutschen Theater, um einen als Chef avisierten Christoph Hein am DT! Unsägliches Stochern und Stottern und Stolpern.

Thomas Oberender, Chef der Berliner Festspiele und einer der feinfühligsten Theaterfürsorger, hat in einem Interview gesagt, als Leiter und Kurator habe er begriffen, sich verantwortlich zu fühlen »für Menschen und Atmosphären«, man sei auch »für einen guten Stil verantwortlich, wenn man Verträge schließt«. Künstler seien keine besseren Mitmenschen, »was wiederum viel mit ihrer Not zu tun hat, ihr Schaffen letztlich über alles andere zu stellen, und damit über all das, was ihrem Schaffen dient«. Von Atmosphären versteht Berlins Politikspitze nichts, die allgemeine Atmosphäre ist freilich dazu angetan, jeden Fehler sofort in Katastrophennähe zu schieben.

Was seit den Griechen Askese heißt, ist in zynischer Fortschreibung des Begriffs offenbar Arbeit an der Grundhärte geworden, mit Angst umzugehen. Angst, die im Schatten der immer gleichen Begriffe auf ihre Stunde wartet: Flexibilitätsgebot, Leistungsdruck, unternehmerischer Zwang. Es tut weh, wie besagte Angst in Berlin für so peinliche Verspannungen sorgt, die setzen Abwehr vor Abwarten und Furcht vor Neugier - und damit bleibt eine schöne Wahrheit der Vorwetter ungelebt. Eine Wahrheit, die mit jener Offenheit, jener Erwartung, jener Gespanntheit (statt Angespanntheit!) zu tun hätte, die Brecht in den Vers fasste: »Undeutlich treten neue Sterne ins Haus.«

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