nd-aktuell.de / 19.09.2016 / Sport / Seite 19

Neider und Bewunderer zuhauf

Paralympics: Weitspringer Markus Rehm wiederholte Triumph von London 2012 und will 2017 zurück an die Themse

Ronny Blaschke, Rio de Janeiro

Sicher ist er sich nicht. Zwischen jedem Versuch nimmt Weitspringer Markus Rehm eine freie Fläche in Beschlag und geht den Ablauf seines Sprunges durch. Er lockert seinen Körper, setzt sich hin, steht wieder auf, rudert mit den Armen. Dann muss er kurz still stehen, wegen der Hymne eines Siegers auf der anderen Seite.

Der nächste Sprungversuch, zwei Dutzend Kameras klicken, wieder wirkt Rehm nicht zufrieden. Seine Leverkusener Trainerin Steffi Nerius ruft ihm aus dem Unterrang einige Tipps zu. Der 28-Jährige presst die Lippen zusammen, nickt kurz, schaut auf die Anzeigetafel. Wieder warten, wieder konzentrieren.

Sicher ist er dann doch. Am Samstagabend verteidigte Rehm seinen paralympischen Weitsprungsieg in der Klasse T44, vor dem Niederländer Ronald Hertog und seinem deutschen Kollegen Felix Spreng. Mit seinem besten Sprung schaffte Rehm 8,21 Meter und verbesserte den paralympischen Rekord um 86 Zentimeter. Er blieb aber unter seiner Bestleistung von 8,40 Metern, dem Weltrekord in dieser Klasse. Mit 8,21 Metern wäre er vor einem Monat bei Olympia Fünfter geworden. Dort gewann der Amerikaner Jeff Henderson, mit 8,38 Metern.

Man muss diesen Querverweis erwähnen, denn Rehm springt praktisch in einer eigenen Liga. Man könnte Paralympics Plus nennen. Über Monate hatte er sich für einen Start bei Olympia eingesetzt, mit Interviews, Lobbyarbeit und einer biomechanischen Studie. Doch er konnte nicht zweifelsfrei beweisen, dass ihm die Prothese unterhalb seines rechten Knies keinen Vorteil bringt. So gesehen sind die 8,21 Meter eine diplomatische Pflicht.

Befürworter und Gegner von Rehm dürften gut damit leben können, denn sie machen eine komplizierte Geschichte nicht noch komplizierter.

Markus Rehm ist inzwischen einer der bekanntesten Individualsportler Deutschlands. Über ihn wurde eine ARD-Dokumentation gedreht und ein ZEIT-Dossier geschrieben. Er wird von einer Agentur vertreten und veranstaltet eigene Medientage. Nur wenige Paralympier erhalten so viele Anfragen. Unter Sportlern ruft das Bewunderung hervor, aber auch Neid.

Für Rehm wird es zunehmend schwer, selbst bei unbedeutenden Wettbewerben von Nichtbehinderten einen Startplatz zu bekommen. Einige olympische Leichtathleten haben sogar einen Boykott gegen ihn erwogen, weil sie sich gegenüber seinem Prothesenabsprung im Nachteil sehen. Öffentlich sagt das niemand, denn sie fürchten, als behindertenfeindlich dazustehen.

Die Verunsicherung reicht noch tiefer. Trainer aus dem Breitensport berichten, dass Veranstalter von inklusiven Sportfesten die wenigen Kinder mit einer Behinderung mitunter in einer Sonderwertung starten lassen wollen. Schließlich habe Rehm gezeigt, wie dominant man mit einer Prothese sein könne.

Vom Deutschen Leichtathletik-Verband waren keine ranghohen Beobachter zu den Paralympics gereist. Sie werden trotzdem wieder mit Rehm ins Gespräch kommen müssen, denn der hofft auf einen Start bei den Leichtathletik-WM 2017 in London. Vielleicht sind die Umstände dafür nun sachlich angemessen. Hätte Rehm sein paralympisches Gold mit 8,50 Metern gewonnen - die Einschüchterung von Konkurrenz und Verhandlungspartnern wäre wohl noch größer.

Auch beim Deutschen Behindertensportverband ist Erleichterung zu spüren, dass Rehm in Rio nicht wie einer Außerirdischer gesprungen ist. Der DBS braucht Leitfiguren wie Rehm, deshalb hat er ihn zur Eröffnungsfeier zum Fahnenträger ernannt. Er ist für den DBS einer der wichtigsten Botschafter, um jungen Unfallopfern den Weg in ein aktives Leben zu ermöglichen. Als Orthopädietechniker legt er bei Prothesen von Jugendlichen oft selbst Hand an.

Er selbst ist nach dem Sieg am Samstag mit der deutschen Fahne durchs Olympiastadion gelaufen. Das wirkte nicht ausgelassen, sondern ein bisschen gezwungen. Man würde gern erfahren, wie es ihm geht nach diesen aufreibenden Monaten. Wie einer der Besten darüber denkt, sich nicht mit den Besten bei Olympia messen zu dürfen. Rehm sagt dann, was er immer sagt: Er sei ein paralympischer Athlet, und als solcher durfte er eine erfolgreiche Gruppe in Rio vertreten. Und er wird für sein Startrecht bei Nichtbehinderten weiter streiten - und weiter springen.

Für eine goldenes Finale der Leichtathletikwettbewerbe sorgten neben Rehm auch Heinrich Popow und Birgit Kober. Der entthronte 100-m-Champion Popow siegte zum Abschluss seiner Paralympics-Karriere mit 6,70 Metern im Weitsprung, und Kober dominierte das Kugelstoßen nach Belieben und gewann mit 11,41 Metern, wobei jeder ihrer sechs Versuche zu Gold gereicht hätte.

Die »Grande Dame« Marianne Buggenhagen aus Berlin krönte ihre großartigen Karriere mit Silber im Diskuswerfen - es war die 62. internationale Medaille für die 63-Jährige. »Ich bin am Leistungslimit angekommen. Diese Medaille hat für mich sehr großen Wert, weil es definitiv meine letzte ist«, sagte sie.

Einen Tag vor Abschluss der Paralympics hatte es einen Todesfall gegeben. Der Radsportler Bahman Golbarnezhad aus dem Iran verunglückte tödlich. Der 48-jährige Asienmeister stürzte auf einer Abfahrt des Straßenrennens. Dabei zog er sich schwere Kopfverletzungen zu und erlitt auf dem Weg ins Krankenhaus einen Herzstillstand. Golbarnezhad starb kurz nach der Ankunft im Unimed Rio Hospital in Barra, teilte das Internationale Paralympische Komitee (IPC) mit und beschloss eine Gedenkminute bei der Abschlussfeier.