Großer, kleiner Mann

Auf Charlie Chaplins Spuren 
in Corsier-sur-Vevey am Genfer See.

  • Heidi Diehl
  • Lesedauer: 6 Min.

Charlie Chaplin hätte Aline geliebt. Für das selbstgemalte Doppelporträt, das die Zehnjährige ihm ans Grab gestellt hat, mehr aber noch, weil das Kind ihm zeigt: Er ist nicht vergessen, sogar bei einer Generation, die nicht mehr mit seinen Filmen aufwuchs. Mit ihrer Zeichnung wischt Aline seine größte Angst beiseite, die Angst, das Publikum könnte ihn nicht mehr lieben und vielleicht irgendwann ganz vergessen.

Ganz im Gegenteil: Noch nie sind so viele Menschen aus aller Welt nach Corsier-sur-Vevey am Genfer See gepilgert wie in diesem Jahr, um dem großen, kleinen Mann ihre Referenz zu erweisen. Seit am 17. April auf dem Gelände seines letzten Wohnsitzes »Chaplin’s World« öffnete, stehen die Menschen jeden Tag Schlange, um Charlie und seine Familie zu besuchen und für einige Stunden in und mit seinen Filmen zu leben.

Hier, wo Chaplin mit seiner vierten Frau, der Schauspielerin Oona O’Neill, und den acht gemeinsamen Kindern 25 Jahre lang glücklich war, entstand ein einzigartiges Museum, das eigentlich gar keines ist. Das Wohnhaus, in dem bis vor wenigen Jahren noch eines seiner Kinder lebte, bietet einen tiefen Einblick in das Privatleben der Familie. Man begegnet Charlie und Oona ebenso inmitten originaler Einrichtungsgegenstände und Fotos wie zahlreichen Freunden und Bekannten der Familie. Albert Einstein zum Beispiel, der im Bad seinem Spiegelbild die Zunge herausstreckt, oder Winston Churchill, gestikulierend im Arbeitszimmer. Diese und andere Grévin-Wachsfiguren sind so lebensecht, dass man für einen Moment glaubt, die Menschen stünden leibhaftig vor einem. Wie man überhaupt meint, die Familie hätte nur mal kurz einen Ausflug gemacht und müsste gleich zurückkommen.

Dieses Haus mit seinem 14 Hektar großen Landschaftspark hatte Chaplin im Jahr 1952 gekauft, als ihm die USA wegen angeblicher Sympathien für den Kommunismus nach einer Kurzreise nach England die Wiedereinreise verweigert hatten. Das oberhalb des Genfer Sees inmitten von Weinbergen gelegene Anwesen wurde für den Rastlosen sowohl familiärer Rückzugspunkt als auch ein Ort beruflicher Inspirationen. Am 25. Dezember 1977 starb der Künstler hier 88 jährig, 14 Jahre später seine Frau.

»Schaut euch meine Filme an, wenn ihr wissen wollt, wer ich bin«, sagte Charlie Chaplin. Das kann man im zweiten Teil des Museums, im nur wenige Meter vom Wohnhaus entfernten Neubau in Form eines Filmstudios. Hier wird das komplette filmische Erbe des Künstlers präsentiert. Mit Ton, Bildern und Licht wurde ein Drehort mit echten Filmkulissen geschaffen, und jeder ist eingeladen, selbst zum Akteur zu werden. Beim Flanieren entlang des Hollywood-Boulevards wandeln die Besucher durch die Kulissen seiner Filme: Da sind die Maschinen aus »Modern Times« und die Hütte aus »Gold Rush«, man begegnet dem »Großen Diktator« und kann die wilde Jagd des Vagabunden aus »The Kid« über die Dächer beobachten, der seinen Adoptivsohn wiederfinden will. Und natürlich sind auch die originalen Utensilien des Tramp zu sehen, jener Figur, die Chaplin 1914 in seiner zweiten Filmrolle »Seifenkistenrennen in Venice« erfand: die zu großen, ausgelatschten Schuhe, die Melone und das Bambusstöckchen. Sie wurden zu seinem Markenzeichen, sie machten ihn zur Filmikone.

Michael Chaplin, 1946 geborenes zweites Kind von Charlie und Oona, der heute Präsident der Fondation du Musée Chaplin ist, sagte zur Eröffnung von »Chaplin’s Word«: »Einen Großteil meiner Kindheit habe ich hier in Corsier-sur-Vevey verbracht. Ich ging in die nahe gelegene Schule und brachte oft Freunde nach Hause. Ich erinnere mich daran, wie enttäuscht einige waren, als sie feststellten, dass mein Vater schon ein alter Mann mit weißen Haaren war. ›Das ist nicht der Vagabund‹, sagten sie und konnten kaum ihre Enttäuschung darüber verbergen. Dieser war leider nicht da. Der Vagabund, der Obdachlose, der Landstreicher, dessen Abenteuer immer auf der Straße endeten, hat nie hier gewohnt. Aber man kann sagen, dass er mit ›Chaplin’s World‹ endlich einen Ort gefunden hat, wo er sich niederlassen kann und zuhause ist.«

Chaplin fühlte sich wohl in seiner Wahlheimat, flanierte gern mit Oona und den Kindern an der Uferpromenade des Genfer Sees, er liebte die Region und die Menschen. Bei seinen Spaziergängen wird er hin und wieder auch an den beiden Wohntürmen in der Avenue de Gilamont vorbeigekommen sein. Obwohl es von seinem Grundstück bis dorthin nur ein kurzer Weg war, lagen doch Welten dazwischen. Dort das riesige, noble Anwesen, hier 14-stöckiger grauer Beton, in dem Menschen mit geringem Einkommen lebten. Ein sozialer Brennpunkt - noch lange nach Chaplins Tod. Vor wenigen Jahren aber wurden die Häuser nicht nur innen komplett saniert, sondern sind inzwischen auch von außen absolute Hingucker. Beide wurden von Franck Bouroullec, einem französischen Maler, mit fotografisch wirkenden Motiven aus Chaplins Filmen bemalt - der Tramp grüßt überlebensgroß. Noch immer beherbergen die Häuser überwiegend Sozialwohnungen, doch anders als in den 60ern sind die Menschen heute stolz darauf, hier zu wohnen. Eine Frau, seit mehr als 50 Jahren Mieterin, sagte: »Ich habe früher neben Charlie Chaplin gelebt, dann war ich auf seiner Beerdigung, jetzt lebe ich in ihm.«

Die Verwandlung dieser Häuser wäre ganz bestimmt nach seinem Geschmack gewesen, denn Charlie Chaplin, der als Kind in bitterster Armut lebte, war zeitlebens auf Seiten der Armen und Benachteiligten.

Gefallen hätte ihm sicher auch, wie Oona reagierte, als zwei Männer in der Nacht zum 2. März 1978 Charlies Leichnam vom Friedhof stahlen, um von ihr 600 000 Schweizer Franken zu erpressen. Oona lehnte ab, die Täter gingen mit ihren Forderungen immer weiter runter, in der Hoffnung, doch wenigstens etwas Geld herauszuschlagen. Zum Schein ließ sich die Witwe darauf ein, ein Übergabeort wurde vereinbart. Was da ablief, schildert Tochter Geraldine so: »Zur Geldübergabe sind wir mit dem Rolls Royce meiner Mutter gefahren. Im Fußraum war ein Polizist versteckt, so ein 007-Typ mit Waffe. Er neigte zur Reisekrankheit und hat sich mitten im Einsatz übergeben. Ein Postbeamter hatten den Funkverkehr mitgehört. Er war in der Mittagspause und dachte: Action! Mit dem Postlaster hat er sich an uns drangehängt. Um uns herum waren überall Zivilpolizisten, die den Briefträger sofort aus dem Auto geholt haben. Besorgte Schweizer Bürger haben das dann für einen Postraub gehalten, die Nummern der Zivilstreife notiert und die örtliche Polizei auf ihre eigenen Kollegen gescheucht. Es war wie ein letzter Chaplin-Film.«

Die Täter wurden gefasst, der Sarg gefunden. Damit nicht noch einmal so etwas passiert, ließ Oona ihn mit einer Betonplatte abdecken. Nach ihrem Tod 1991 wurde das gemeinsame Grab zubetoniert. Es ist heute ein Pilgerort für alte und ganz junge Fans.

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