Monsieur Europe

Michel Barnier vertritt die EU bei den Verhandlungen zum Austritt Großbritanniens. Von Bernard Schmid

  • Bernard Schmid
  • Lesedauer: 4 Min.

Mit britischem Humor wird man dem Herrn Chefunterhändler wohl nicht zu kommen brauchen. Denn zum Ersten gelten seine Englischkenntnisse als relativ bescheiden, jedenfalls für jemanden, der einige Jahre seines Lebens lang als EU-Kommissar, als Außenminister sowie als Minister für europäische Angelegenheiten seines Landes amtiert hat. Zum Zweiten gilt sein Verständnis für Humor als mindestens ebenso bescheiden.

Der Franzose Michel Barnier tritt am 1. Oktober sein Amt als Verhandlungsleiter der Europäischen Union in den Unterredungen über die Modalitäten des »Brexit« - des bevorstehenden britischen EU-Austritts - an. Ihm haftet der Ruf eines ernsten, eher technokratisch veranlagten Politikers an. Zugleich gilt der 65-Jährige als einer der ernsthaftesten EU-Befürworter im französischen Establishments, während viele andere noch in jüngerer Vergangenheit ein eher taktisches Verhältnis zur Union pflegten und einem eigenständigen Großmachtstatus ihres Landes zumindest nachtrauerten. An politischer Intelligenz mangelt es Barnier ferner nicht, beispielsweise erkannte er als aufstrebender bürgerlicher Jungpolitiker bereits in den achtziger Jahren die Bedeutung der ökologischen Frage. So legte er als Bezirkspräsident von Savoyen 1986 ein recht umfassendes Umweltschutzprojekt auf. Sicherlich auch aus wohlkalkuliertem Eigeninteresse der örtlichen Bourgeoisie, lebt das Département doch zum Gutteil vom Tourismus.

Die britische Boulevardzeitung »Sun« bezeichnete seine Ernennung zum Brexit-Chefunterhändler, die am 29. Juli von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker bekannt gegeben wurde, flugs als »Kriegserklärung« an die britische Delegation. Das Tittenblatt unterstellte dabei, mit Barniers Englischkenntnissen und seinem Akzent würden die britischen Unterhändler einige Verständnisschwierigkeiten haben.

In Wirklichkeit hat sich seine Beherrschung der Sprache Shakespeares in den Brüsseler Amtsjahren doch etwas verbessert, und die Vorbehalte von Teilen der britischen Presse spiegeln eher die sich anbahnenden politisch-ökonomischen Konflikte wider. Die britische Seite versucht vor allem, die Interessen der in der Londoner City angesiedelten Finanzindustrie über den »Brexit« hinaus zu bewahren. Zugleich hat sie bereits im Sommer - während Premierministerin Theresa May noch auf Zeit spielte, herum taktierte und den Austrittsantrag erst auf mittlere Sicht stellen wollte - damit begonnen, »hinter dem Rücken der Brüsseler« eigene Verhandlungen für bilaterale Wirtschaftsabkommen mit Drittstaaten zu führen, wie die französischen Nachrichtenagentur AFP am 5. September empört vermeldete. Am Vortag hatte der Premierminister Australiens, Malcolm Turnbull, kurz vor dem G20-Gipfel im chinesischen Hangzhou offiziell bestätigt, sein Land führe Verhandlungen über ein künftiges Freihandelsabkommen zwischen London und Canberra. Ähnliche Verhandlungen wurden mit Indien, Singapur, Südkorea und Mexiko angebahnt.

Die EU-Kommission bezeichnete solche, aus ihrer Sicht eigenmächtig anberaumten Verhandlungen als fehl am Platze, solange das Vereinigte Königreich noch der Union angehöre. Jean-Claude Juncker gab sich auf der Pressekonferenz in Hangzhou keine Mühe, mit seiner Verärgerung darüber hinter dem Berg zu halten.

Barnier wird in manchen Kreisen des britischen Establishment als Feind der City-Interessen wahrgenommen, nachdem er in den Jahren 2009 bis 2014 als EU-Kommissar »für Binnenmarkt und Finanzdienstleistungen« amtierte. Damals zeigte er sich bemüht, infolge der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2008 eine gewisse »Regulierung« des außer Kontrolle geratenen Finanzsektors vorzunehmen. Durchaus in dessen eigenem Interesse, gewissermaßen um das Finanzkapital vor sich selbst und seinen »Auswüchsen« zu schützen. Damals hatte man in London zunächst hochempfindlich auf seine Anstrengungen reagiert - um dann aber zu begreifen, dass Barnier sehr wohl im Sinne des (Gesamt-)Kapitals agierte. Der Mann selbst rühmte sich im Übrigen, von 42 EU-Gesetzestexten, die er zu der Thematik vorgelegt hätte, seien nur zwei von den Briten abgelehnt worden.

Michel Barnier ist gewiss kein Kapitalismuskritiker, und wie andere Vertreter des bürgerlichen Politikbetriebs wechselte auch er zwischenzeitlich in die Privatwirtschaft. Im Februar 2006 wurde er zum Vizevorsitzenden des Konzerns für Pharma- und Biotechnologie Mérieux Alliance ernannt; den Posten verließ er anderthalb Jahre später wieder, als er erneut ein Ministeramt übernahm. Im Laufe seiner Karriere war Barnier unter anderem Umweltminister in den Jahren 1993 bis 1995, Europaminister in den beiden darauf folgenden Jahren, EU-Kommissar für Regionalpolitik zwischen 1999 und 2004, später Außen- und dann Landwirtschaftsminister. Bis 2009 gehörte er unterschiedlichen bürgerlichen Regierungen in Paris an, danach wechselte er ins Europaparlament und kurz darauf in die EU-Kommission. Auf britischer Seite werden ihm als Chefunterhändler in Kürze der Londoner Ex-Bürgermeister Boris Johnson, der amtierende Brexit-Minister David Davis sowie Außenhandelsminister Liam Fox gegenüber sitzen.

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