nd-aktuell.de / 11.10.2016 / Wirtschaft und Umwelt / Seite 3

Die Spielregeln verhindern den Aufstieg

Der US-amerikanische Soziologe Erik Olin Wright hält im nd-Gespräch einen neuen Klassenkompromiss für möglich

Simon Poelchau

Ich würde das Interview gerne mit einem kleinen Spiel beginnen: Ich stelle Ihnen eine Person vor, und Sie sagen mir, in was für einer sozialen Klasse sich diese Person befindet …
Das können wir gerne machen. Ich würde davor aber gerne die Frage aufwerfen, was der Begriff der Klassenzugehörigkeit bedeutet.

Was bedeutet es, Angehöriger einer Klasse zu sein?
Soziale Klassen sind nicht so etwas wie ein Club, in dem man Mitglied sein kann oder nicht. Die Klassenanalyse ist eine sehr komplexe Angelegenheit.

Wie würden Sie dann den Begriff der Klasse definieren?
Klassen sind eingebettet in die sozialen Verhältnisse. Insofern kann man eine Person nicht einfach in eine Box stecken, wenn man nach ihrer Stellung in der Gesellschaft fragt. Stattdessen muss man betrachten, wie die sozialen Beziehungen aufgebaut sind, in denen die Menschen leben. Und diese sind miteinander verflochten. Insofern kann es vorkommen, dass eine Person je nach Blickwinkel zwei verschiedenen Klassen angehört.

Wie ist es dann zum Beispiel mit dem Inhaber eines kleinen Spätkaufs, der zwei Angestellte hat, aber 60 Stunden die Woche arbeiten muss, um über die Runden zu kommen, und seine Kinder nicht auf die Universität schicken kann?
Diese Person ist gleichzeitig ein Selbstständiger und ein Unternehmer. Als Unternehmer ist er Kapitalist. Er besitzt Kapital und lässt andere Menschen für sich arbeiten. Doch gleichzeitig setzt er als Selbstständiger seine eigene Arbeitskraft in Bewegung. Insofern ist seine Stellung in der Klassengesellschaft recht widersprüchlich.

Und wie ist es mit Topmanagern internationaler Konzerne?
Am Ende bleibt ein Vorstandsmitglied ein Angestellter des Unternehmens. Doch bekommt er von den Anteilseignern unglaublich viel wirtschaftliche Macht. Deswegen sind Topmanager Kapitalisten, auch wenn sie am Ende des Tages gefeuert werden können. Die Antwort auf die Frage der Klassenzugehörigkeit ist also keine einfache Geschichte.

Ein bekanntes Beispiel für jemanden, der in der Gesellschaft extrem weit aufgestiegen ist, ist Facebook-Gründer Mark Zuckerberg. Sein Vater war Zahnarzt, seine Mutter Psychotherapeutin. Er war also ein Kind aus der gehobenen Mittelschicht und nun ist er einer der reichsten Männer der Welt. Hat er dies geschafft, nur weil er schlau war, oder auch, weil er auf der Eliteuniversität Harvard war, die die Hochschule mit den meisten Milliardären in ihrer Absolventenliste ist?
Letztlich ist er wahrscheinlich zur richtigen Zeit zur Welt gekommen. 20 Jahre früher und er hätte nicht den technologischen Wandel und dessen Möglichkeiten nutzen können, um einer der wichtigsten Männer im globalen Kapitalismus zu werden.

Aber hat sein Aufstieg nicht auch etwas mit den Möglichkeiten zu tun, die ihm die Eliteuni bot und die normalen Menschen in der Regel vorenthalten werden?
Natürlich ist es wichtig, zwischen den Fragen zu unterscheiden, warum Menschen in eine bestimmte Position gelangen und warum sie in einer Position sind, dies zu schaffen. Dabei geht es weniger darum, warum es einige schaffen, als darum, wie die Verhältnisse aufgebaut sind, dass es einige schaffen und einige nicht. Ersteres hat viel mit Zufälligkeiten zu tun, Letzteres mit den Spielregeln der Gesellschaft, die einen Aufstieg verhindern. Diese Regeln werden vom Staat durchgesetzt und sie schaffen Positionen mit unterschiedlichen Stufen an Macht.

Und in der gegenwärtigen Klassengesellschaft sind die Spielregeln so gestaltet, dass einige wenige Menschen viel Macht haben und andere Menschen dafür keine.
Die marxistische Theorie kann uns da sehr gut helfen, warum die Spielregeln so sind, wie sie sind. Sie legt uns nämlich die ökonomischen Fundamente der Gesellschaften offen, die auf Ausbeutung und Herrschaft beruhen. Aber dies reicht nicht aus, um die gegenwärtigen Gesellschaften zu analysieren. Da braucht es noch zwei weitere Theorieansätze.

Sie sprechen von den Theorien aufbauend auf Max Weber und Émile Durkheim.
Webers Ansatz erklärt uns die ganz feinen Unterschiede im Kapitalismus, wie die Spielregeln kapitalistischer Gesellschaften gestaltet sind. Der Ansatz von Durkheim zeigt uns, wie und warum bestimmte Gruppen von Menschen bestimmte Züge in diesem Spiel machen und Strategien verfolgen.

Haben sich diese Spielregeln seit der Finanzkrise verändert? Schließlich ist in den letzten Jahren das Thema der Ungleichheit, das sehr eng mit der Klassenfrage verbunden ist, ins Zentrum der öffentlichen Debatten gerückt.
In Sachen Einkommens- und Vermögensungleichheit hat sich die Gesellschaft weiter polarisiert. Doch auch die Art und Weise, wie der Kapitalismus und seine Spielregeln organisiert sind, haben sich in den letzten 30 Jahren stark verändert.

Wie meinen Sie das?
Der Kapitalismus ist seit den 1970er Jahren viel globaler geworden. Den Kapitalisten stehen nun Hunderte Millionen neuer Arbeiter weltweit zur Verfügung, die sie ausbeuten können. Ihre ökonomische Macht war früher durch nationale Gesetzgebungen viel mehr eingehegt. Besonders das Finanzkapital wurde da entfesselt. Das ermöglicht es den Ultrareichen, ihr Vermögen noch viel schneller zu vermehren als noch vor drei Jahrzehnten.

Hat dies nicht auch etwas mit dem Aufkommen des Neoliberalismus zu tun?
Natürlich. Der Neoliberalismus ist ein Teil dieser Globalisierung. Und er führte zu einer Konzentration der Macht bei den Unternehmen und einer Schwächung der Arbeiterklasse und der Gewerkschaften auch innerhalb der einzelnen Länder, während gleichzeitig die globale Macht des Kapitals gestärkt wurde. Doch im Grunde blieb das Spiel dasselbe, nur die Spielregeln wurden zugunsten einiger Weniger geändert.

Und wie sieht die Zukunft aus? Wird die Digitalisierung die Verhältnisse weiter verschärfen?
Solche Vorhersagen sind meist sehr unsicher. Sie beruhen in der Regel darauf, dass sich lediglich ein Trend der Gegenwart durchsetzt, aber sonst alles gleich bleibt. Insofern kann die Digitalisierung die Verhältnisse weiter verschärfen. Aber es ist auch gut möglich, dass es zu einem neuen Klassenkompromiss kommt.

Sie sind nicht der Einzige, der so etwas ins Spiel bringt. Der ehemalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis etwa fordert für Europa einen New Deal. Doch die Kräfteverhältnisse in Europa schauen derzeit ganz anders aus …
Europa durchlebt derzeit natürlich sehr unsichere Zeiten. Die Eurokrise hat die Diskrepanz zwischen einer gemeinsamen Währung und dem Fehlen einer gemeinsamen Steuer- und Sozialpolitik deutlich gemacht. Mit der Flüchtlingsfrage wurden diese Auflösungstendenzen verstärkt, auch der Brexit hat den Rechtspopulisten Auftrieb gegeben. Doch ein geeinteres, demokratischeres Europa ist noch immer möglich. Insofern ist auch ein neuer Klassenkompromiss weiterhin möglich.

Ein neuer Klassenkompromiss würde die fundamentalen Spielregeln der Gesellschaft nicht ändern, den Kapitalismus nicht abschaffen. Ist das nicht ein bisschen wenig für Sie als Marxist?
Es würde natürlich erst mal Kapitalismus bleiben. Aber der Kapitalismus wäre sozialer. Und vor allem gelingt eine Transformation der Gesellschaft nicht von heute auf morgen, indem man von einer Wirtschaftsform in eine andere einfach so wechselt. Stattdessen könnte ein neuer Klassenkompromiss helfen, den Kapitalismus auf lange Sicht auszuhöhlen.

Dabei sieht es auch in den USA nicht gerade rosig aus. Donald Trump könnte bald Präsident werden.
Glücklicherweise ist Trump eine solch widerliche Person, dass viele ihn abstoßend finden und es sehr unwahrscheinlich ist, dass er die Wahlen gewinnt. Doch sollte er ein Warnsignal für alle jene Progressiven sein, die die Gesellschaft zum Besseren verändern wollen.

Warum?
Weil Trumps Erfolg dafür steht, dass wir keine Antwort auf den Neoliberalismus haben, die die Menschen ernst nehmen. Dieses Vakuum können nun rechte Rassisten ausnutzen.

Und was war mit Bernie Sanders? Immerhin wäre er fast demokratischer US-Präsidentschaftskandidat geworden.
Das stimmt. Sanders stand zumindest für das Bemühen der Progressiven, eine egalitäre Alternative zum Neoliberalismus zu finden. Doch in Europa gibt es niemanden wie Sanders. Es gibt zwar etwas Hoffnungsschimmer etwa bei Podemos in Spanien oder bei der Basis von SYRIZA in Griechenland. Doch auf der europäischen Ebene gibt es keine Person wie Sanders.