nd-aktuell.de / 12.10.2016 / Politik / Seite 3

Tangas, Stars und Mafia

Die ukrainische Schwarzmeerstadt Odessa präsentiert sich bunt, offen und reich an Facetten

Ralf Leonhard, Odessa

Vom Schwarzen Meer weht eine erfrischende Brise. Auf der Terrasse eines exklusiven Strandhotels in Odessa feiert Vladislav Davidzon das Erscheinen der jüngsten Nummer seiner Kulturzeitschrift »Odessa Review«. Die burschikose israelische Sängerin Shefita - exklusiv eingeflogen aus Tel Aviv - zieht ihre Show ab. Veteranen der jüdischen Intelligenzija knabbern an den von geschniegelten Kellnern gereichten Häppchen, Künstlerinnen nippen am Sekt. Auch die eine oder andere Größe der lokalen Politik hat sich eingefunden und lässt sich für die Society-Seite der nächsten Ausgabe ablichten.

Davidzon ist erst vergangenes Jahr von seinem Posten als wohl bestallten Korrespondent in Paris nach Odessa, der Stadt seiner Mutter, zurückgekehrt. Der in Usbekistan als Sowjetbürger geborene Davidzon sitzt in einem Lokal in der belebten Fußgängerzone und hämmert in jeder freien Minute in seinen Laptop. Er hat sieben Jahre seiner Kindheit in der Hafenstadt am Schwarzen Meer verbracht. Er fühlte die Aufbruchsstimmung, als vor etwas mehr als einem Jahr der neue Gouverneur wie ein Wirbelwind durch die Stadt fegte. Micheil Saakaschwili, der nach seiner zehnjährigen Präsidentschaft in Georgien zu Hause zur Unperson geworden ist, unternimmt in der Ukraine eine zweite politische Karriere und hat dort in jeder Hinsicht Staub aufgewirbelt.

Odessa strahlt den Charme einer kosmopolitischen Stadt aus, die immer etwas Besonderes gewesen ist. An die Sowjetzeit erinnern noch die Straßenbahnen und in die historische Bausubstanz gesetzte graue Klötze. Unter der Bronzestatue von Katharina der Großen, die die Stadt 1794 als Militärhafen gründete, zücken Scharen von Touristen das Handy für ein Selfie.

Die breite Freitreppe wirkt weniger spektakulär als in Sergej Eisensteins Kultfilm »Panzerkreuzer Potemkin« von 1925, der sie berühmt gemacht hat. Alexander Puschkin pries in der Erzählung Eugen Onegin die Freiheit und Ungezwungenheit in der Stadt. Kein Wunder. Der junge Dichter, der hier mit 23 Jahren seine Verbannung als Archivar absitzen musste, vertrieb sich die Zeit mit einer wilden Liebesaffäre mit Gräfin Woronzowa, der Ehefrau des Gouverneurs.

Noch heute ist man in Odessa eher den freundlichen Seiten des Lebens zugeneigt. In den Strandlokalen, wo zu Disco-Musik teure Drinks kredenzt werden, sieht man mehr String-Tangas auf braungebrannten Luxuskörpern als an Rios Copacabana. Im Juli lockt das Internationale Filmfestival Cineasten aus aller Welt an. Ukrainische Filmschaffende nutzen die Gelegenheit, um zwischen den internationalen Produktionen ihre neuesten Spielfilme und Dokumentationen zu präsentieren.

Für Viktoria Tihipko, die Präsidentin des Festivals, ist die kosmopolitische Stadt am Schwarzen Meer der ideale Schauplatz für eine solche Veranstaltung. Jeder Cineast kennt »Panzerkreuzer Potemkin«. Aber auch Chaplins »City Lights« wurde hier gedreht, und heute werden die Odessa Film Studios nicht nur für nationale Produktionen genutzt. Hollywood-Star Kirk Douglas wurde hier vor knapp 100 Jahren als Issur Danilovich Demsky geboren. Sylvester Stallone, Steven Spielberg, Johnny Depp und Whoopie Goldberg hatten Großeltern aus Odessa.

Odessa ist nicht nur die inoffizielle Kulturhauptstadt der Ukraine, es ist auch ein Hort der Korruption und des organisierten Verbrechens. Die Häfen waren schon im Zarenreich Umschlagplätze für Schmuggelgut jeder Art. Der in Odessa geborene Isaak Babel wusste davon in seinen Geschichten zu berichten. Die 1990er Jahre gelten als »Gangster-Periode«.

Auch heute noch, so der freie Kolumnist und Geheimdienstspezialist Nick Holmov, seien dort die russische Mafia über Mittelsmänner ebenso im Geschäft wie armenische Dunkelmänner und ukrainische Oligarchen, die Millionen an Schwarzgeld waschen. Auch Bürgermeister Gennadi Truchanov wird nachgesagt, mit solchen Geschäften reich geworden zu sein. Holmov weiß, wie das zu machen sei: »Da kommt einer und will dir Sicherheit für dein Lokal anbieten. Wenn du nicht einverstanden bist, wird das Lokal abgefackelt. Das funktioniert wie bei der italienischen Mafia.«

Die russische Sprache ist weit verbreitet. »Das heißt aber nicht, dass die Menschen sich Russland anschließen wollen«, sagt Nick Holmov, der in einem Café im Stadtpark bereitwillig sein Wissen auspackt. Entsprechende Tendenzen seien nach der Krim-Annexion und dem darauf folgenden Wirtschaftsabschwung auf der abtrünnigen Halbinsel schnell einem gemäßigten Ukraine-Patriotismus gewichen. Viele Ukrainer, die früher auf der Krim Urlaub machten, suchen jetzt die Strände der Hafenstadt auf.

Eine offene Wunde bleibt der Brandanschlag auf das Gewerkschaftsgebäude, in das sich am 2. Mai 2014 prorussische Demonstranten geflüchtet hatten. 42 von ihnen kamen ums Leben. Davor waren bei Zusammenstößen im Stadtpark sechs nationalistische Aktivisten erschossen worden. »Der Konflikt ist absichtlich inszeniert worden«, ist sich Nick Holmov sicher. Der Brand sei aber kaum geplant gewesen. Eine Untersuchung oder Aufarbeitung der blutigen Ereignisse ist bis heute ausgeblieben. »Die Regierung reagiert noch immer nervös«, sagt der Geheimdienstexperte. Das bewies sie vor dem ersten Jahrestag, als sie mehrere Journalisten auswies.

Im Juni 2015 wurde Micheil Saakaschwili von Präsident Petro Poroschenko als Gouverneur des Verwaltungsbezirks Odessa eingesetzt. Er sollte dort einen Gegenpol zum russlandtreuen Bürgermeister Gennadi Truchanow bilden und ein Modell schaffen, wie die neue Ukraine aussehen soll. Der Staatschef, der mit dem Georgier in Kiew Rechtswissenschaften studiert hat, setzte den alten Freund zunächst als Berater ein und stattete ihn dann mit der ukrainischen Staatsbürgerschaft aus. Denn aus seiner Heimat war der Ex-Präsident von der neuen Regierung ausgebürgert worden. Man wirft ihm Überschreitung seiner Befugnisse und Menschenrechtsverletzungen vor. Ein gültiger Haftbefehl erlaubt ihm nicht die Rückkehr.

In Odessa stellte Saakaschwili georgische Landsleute an die Spitze von Polizei und Staatsanwaltschaft. Die Zollbehörde übertrug er einer Beraterin, der erst 26-jährigen Philologin Yuliya Marushevskaya, die keinerlei Erfahrung mit Wirtschaft oder öffentlicher Verwaltung mitbrachte. Als Vizegouverneurin holte er sich Maria Gaidar, Tochter des ehemaligen russischen Ministerpräsidenten Jegor Gaidar.

Gouverneur Saakaschwili, der immer so aufgedreht wirkt, als hätte er einen Muntermacher geschnupft, war mit einem Koffer voller Versprechungen angetreten. Er werde den maroden Flughafen aus der Sowjetzeit modernisieren, mit der Korruption aufräumen, eine Autobahn nach Reni an der rumänischen Grenze und damit eine Schnellverbindung in die Europäische Union, bauen, ein Zentrum für Bürgerservice einrichten, wo jeder ohne Schmiergeld schnell seine Dokumente bekommt, und und und ...

Die Journalistin Waleria Iwaschkina ist ein Jahr später all diesen hochfliegenden Plänen nachgegangen. Und ihre Bilanz ist niederschmetternd. Von den Projekten sei fast nichts umgesetzt worden. Saakaschwili habe sich mit Oligarchen verbündet, die seinetwegen gute Geschäfte machen und ihm dafür ein aufwendiges Leben in Luxuswohnungen und Reisen im Privatjet ermöglichen.

Tatsächlich hat Saakaschwili mehr Energie in sein politisches Weiterkommen, als in die Erfüllung seiner Aufgaben investiert. Sein Versuch, Neuwahlen vom Zaun zu brechen, um Premierminister zu werden, schlug fehl. Dabei ist strittig, ob er als jüngst Eingebürgerter überhaupt dieses Amt bekleiden dürfte. Dazu hätte es zumindest eines freundlichen Spruches des Höchsten Gerichtes bedurft.

Auch der Plan, einen Vertrauensmann im Rathaus von Odessa zu installieren, scheiterte bei den Kommunalwahlen im vergangenen Herbst. Bürgermeister Gennadi Truchanow ist ein Politiker, der von der alten Partei der Regionen kommt und bestens vernetzt ist. Gegen ihn war Saakaschwilis Berater Oleksandr Borowik mit seinen 26 Prozent gegen 52 Prozent für Truchanow chancenlos.

Vladislav Davidzon sieht bei aller anfänglichen Sympathie für Saakaschwili keine Zukunft: »Ein Bulldozer ist gegen die Wand gefahren und die Wand hat gewonnen.« Aber seine Rückkehr nach Odessa hat er nicht bereut. Seine sehr professionell gemachte »Odessa Review« hat sich schnell als weithin anerkannte Kulturzeitschrift etabliert, und auch in der Stadt konstatiert er nach einem Jahr bleibende Verbesserungen: »Neue Restaurants machen auf, Kulturinstitutionen werden gegründet, junge Leute engagieren sich. Die Stadt hat sich geöffnet.«