»Wer krank ist, soll nicht fahren«

Deutsche Radprofis greifen britische Stars wegen therapeutischer Ausnahmen an

  • Tom Mustroph, Doha
  • Lesedauer: 4 Min.

Es brodelt im Radsport. Die von der Hackergruppe »Fancy Bear« veröffentlichten therapeutischen Ausnahmegenehmigungen (TUE) der britischen Profis vom Team Sky, Bradley Wiggins und Chris Froome, sorgen für Unverständnis bei den Frontmännern der deutschen Radsportabordnung bei den Weltmeisterschaften in Doha. »Wenn Bradley das braucht - ich brauche so etwas nicht«, sagte der frisch gebackene Zeitfahrweltmeister Tony Martin mit Bezug auf die Wiggins erteilte Lizenz zum Spritzen.

Die Genehmigungen für Wiggins waren gleich doppelt brisant. Zum einen hatte der einstige Vorzeigeprofi öffentlich immer die Meinung vertreten, dass Spritzen im Radsport nicht erlaubt sein sollten. Zum zweiten hatte er sich die Injektionen ausgerechnet vor wichtigen Wettkämpfen verpassen lassen - bei der Dauphiné-Rundfahrt 2011, die er als Vorbereitungsfahrt auf die Tour de France gewann, und vor dem Giro d’Italia 2013, den er auch gern gewonnen hätte.

Martin nahm den vermutlich sogar tatsächlich chronisch lädierten Wiggins noch ein wenig in Schutz. »Es ist ja legal, was er gemacht hat. Er hat die Grenzen eben nur ausgereizt«, sagte der Cottbuser nach seinem WM-Erfolg. Und bevor jemand auch das als problematisch für das angebliche Saubermannteam Sky kritisieren konnte, fügte er schnell hinzu: »In Sachen Aerodynamik versuche ich auch die Grenzen auszureizen.« Das war nett gemeint; aber zwischen technischer Pionierarbeit und pharmazeutischer Grenzerschließung besteht ein beträchtlicher moralischer Unterschied im Sport.

Wesentlich härter gingen Martins deutsche Mannschaftskollegen André Greipel und Marcel Kittel mit Wiggins und dem britischen Team ins Gericht. »Wenn man krank ist, fährt man keine Radrennen«, meinte Greipel kategorisch. »Deswegen sind wir in der MPCC«, erklärte er. Die MPCC ist eine Initiative für sauberen Radsport, die sich unter anderem auf ein Spritzenverbot geeinigt hat und ebenso darauf, Rennfahrer nicht zu Wettkämpfen zu schicken, wenn sie mit Mitteln behandelt werden, die neben Heileffekten auch leistungssteigernde Wirkungen aufweisen. »Jetzt wissen wir auch, warum Sky nicht in der MPCC war«, bemerkte Greipel noch trocken.

Kollege Kittel hatte sogar eine spezielle Kategorie parat, unter der Fahrer wie Wiggins antreten sollten, eine Art Paralympics light: »Wenn jemand schweres Asthma hat, dann hat er im Leistungssport nichts zu suchen. Wir haben auch die Paralympics deswegen eingeführt, weil wir den Einbeinigen eine Chance geben wollen, sich mit anderen zu messen.«

Das ist starker Tobak. Kittel versuchte in einer nachgeschobenen Pressemitteilung des Bunds Deutscher Radfahrer klarzustellen, dass er den Behindertensport ernst nehme. Unabhängig davon enthält sein Gedanke aber einen wahren Kern. Der Leistungssport ist mittlerweile voll von Kranken, ob sie unter Asthma leiden, Krebs haben oder Blutanomalien. Die Medikamente, die sie erhalten, lindern nicht nur ihre Leiden, sie sind auch in der Lage, ihnen Leistungsvorteile zu verschaffen.

So wie einige Sportprothesen mittlerweile die Leistungskraft herkömmlicher menschlicher Muskulatur ausgleichen oder diese sogar überbieten - wie Oscar Pistorius und Markus Rehm oft vorgeworfen worden ist -, so können jene Medikamente dem Körper mehr Energie verleihen, als es durch Training allein zu erreichen wäre. Bei aller Drastik ist Kittels Anregung zumindest bedenkenswert.

Vor allem aber erhöht sich mit diesen Aussagen der Druck aufs Team Sky. Denn dort gab es nicht nur die medizinischen Ausnahmegenehmigungen. Teamchef Dave Brailsford leistete sich anlässlich einer umstrittenen Lieferung eines Päckchens an den Teamarzt während der Dauphiné 2011 einen Fauxpas in Sache Krisenmanagement. Er behauptete zunächst, das Päckchen sei aus den Büros des Nationalverbands British Cycling für die Radsportlerin Emma Pooley bestimmt gewesen. Pech ist nur, dass Pooley zum selben Zeitpunkt Hunderte Kilometer entfernt bei einem Rennen war und keinen Bedarf an Extrasendungen vom Verband angegeben hatte. Warum legt Brailsford falsche Fährten, fragt sich nun die Radsportwelt.

Team Sky schweigt und verweist auf die laufenden Ermittlungen der britischen Antidopingagentur. »Wir werden die Ermittlungen von UKAD voll unterstützen«, versprach die Teamführung. Auf die Insel hat sich der Superlativ der »brutalstmöglichen Aufklärung« offenbar noch nicht herumgesprochen. Brailsford ist jetzt aber doch in die Roland-Koch-Liga herabgestiegen.

Der Arzt übrigens, an den das Päckchen damals adressiert war, ist ganz schnell aus der Delegation des britischen Radsports in Doha abberufen worden. Bloß nicht Rede und Antwort stehen, lautet offenbar die Devise. Skys Motto der »marginal gains«, der Summierung kleinster Vorteile, muss jedenfalls inzwischen neu interpretiert werden.

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