»Einmal das Gegenteil sein«

Warum das Theater des Seelenmusikers Christoph Marthaler uns gerade heute so viel zu sagen hat

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Hier wird ein Bein vors andere gesetzt, um Schritte zu vermeiden; hier darf nichts geschehen, was sich noch als heimliche Hoffnung auf einen Nutzen, auf ein Ziel deuten ließe. Der Neandertaler begann einst den langen Weg in die Menschwerdung, und dieser Marthaler beendet den Weg. Zielankunft im Still-Stand. Gestalten wie Fische in einem Aquarium. Die man sich ja als glückliche Naturen vorstellen darf, weil sie über ihr Los nicht nachdenken müssen und den Ozean nicht kennen. Vollendete Tiere eben - im Gegensatz zum Menschen, jenem ungelungenen Wesen mit dem zu großen, unausgelasteten Bewusstseinsraum im Kopf. Ein Wesen, dazu verdammt, sich fortwährend in eine vollkommene Existenz zu denken. Und das daran verzweifelt. Christoph Marthalers Menschen sind Fische, die dieses Los wundersam und wunderbar besingen können.

Der Schweizer Regisseur, 1951 im Kanton Zürich geboren, erzählt immer wieder die ewig traurige Geschichte, die wir so gut kennen: Es gehört zum Schicksal unserer Sehnsüchte, nicht altern zu können. Sehnsucht fährt in uns hinein, kaspert in unserer Existenz herum, richtet etwas an und nimmt keine Rücksicht darauf, dass wir täglich schneller in der Anpassung schnurren und also täglich etwas mehr loslassen vom erträumten Leben. Aus diesem quälenden Widerspruch erwächst die Wahrheit einer Komik, über die es nichts zu lachen gibt. Außer Tränen, bei Marthaler. In den Inszenierungen dieses Seelenmusikers - er studierte Blockflöte, Oboe und begann als Theatermusiker - findet man gleichsam die Geduld wieder, die der Schöpfer angesichts seines Werkes Mensch sehr früh verloren haben muss. Bühnenbildnerin Anna Viebrock gibt dieser Geduld seit Jahren den Raum: Bahnhofshalle, Krankensaal, Fitnesskeller, Sachbearbeiterkäfig, Warteraum. Lauter Zimmerfluchtverhinderungen. Alles hoch, kalt oder eng, miefig und alles doch: eine Herzkammer.

Mehrgeteilt ist das Werk dieses ästhetischen Eigen-Art Directors: Opern, Stücke (nach seiner aufsehenerregenden Inszenierung von »Kasimir und Karoline« an Hamburgs Deutschem Schauspielhaus gilt der Präzisionskünstler als Neuentdecker Horváths) und jene legendären thematischen Phantasien über Abenteurer und Gedemütigte, Flaneure und Flüchtlinge, Beamtenzombies und Zauselkindsköpfe (»Murx den Europäer«, »+-0 Ein subpolares Basislager«, »Lieber nicht. Eine Ausdünnung«, »Letzte Tage. Ein Vorabend«). Jede seiner Gestalten ist eingesponnen in einen verschlüsselten Code. Im Abend »Die Spezialisten«, vor Jahren in Hamburg, fiel der Kernsatz allen Lebens: »Ich würde gern auch mal das Gegenteil sein.« Der traurigste Satz der Welt. Denn der Traum vom Ich, das ausschert, er scheitert regelmäßig an jenem albernen Funktionsmechanismus, in dem man herumhampelt. Womöglich mit der Illusion, durch Sinnsuche etwas zu finden, das es nicht gibt: eine richtige Seite der Geschichte.

Geschichte: Was war? Nein, die Frage geht anders: Was ist? Unvergesslich: »Schutz vor der Zukunft« (Wien). Der Abend auf dem Gelände einer stillgelegten Psychiatrie erinnerte an die Kinder, die hier bis 1945 Mordopfer der Nazis wurden. Aber: Euthanasie als modernes Messe- und Kongressthema; dazu jagt ein Entertainer mit Kannibalenwitzen durch die Reihen. Bei Marthaler wurden wir Zuhörer einer jetztzeitigen werberischen Aggressivität. Eine neue Rassenlehre? Wieder diese Hygiene des Inhumanen? Alles auf Reinheit programmiert? Ja, Überbietung und die Zwangsneurose der Ertüchtigung: »Schützen Sie Ihre Haut vor Misserfolgen!« Mahlers Kindertotenlieder, aufmunternd gekontert: »Irgendwo auf der Welt/ Gibt’s ein kleines bisschen Glück.« Klingt lieblich - während den Kleinen, den Unschuldigen das Veronal gereicht wird. Ein atemberaubender, herzbohrender Dreistunden-Abend. Absurder Witz, meisterhaft mutig eingefügt in eine peinigende Grässlichkeit.

Marthaler, der europaweit inszeniert, gehört(e) zu den festen Größen von Frank Castorfs Volksbühne. Der nannte den Schweizer »einen der letzten Autonomen, die sich weigern, politisch oder ideologisch zu sein«. Die Konfrontation mit dem Unausweichlichen als wahres Ende der Geschichte. Als Ende nämlich jener Determinationsbefangenheit, bei der sowas wie Ideenkampf nur das verbrauchte Wort für eine Selbsttäuschung ist. Nämlich: dass die Welt begreifbarer würde, wenn man sie in Klassen einteilt.

Zum Beispiel »Dantons Tod« von Büchner (in Zürich). Ideenkampf? Langeweile, Vergeblichkeit, Lust auf Leichen. Der Gesangsverein als Filiale der Kaserne. Die Volksgemütsmusik als Treibriemen für den Tugend-Terror. Das Arbeiterlied als Pathospeitsche. Und der Schluss aller Kämpfe? Altersheim Frohe Zukunft. »Wann wir schreiten Seit an Seit« geht nahtlos über ins Volksliedchen vom Wagen, der rollt. Ja, der rollt gewiss. Hin zur Guillotine, und deshalb wird jetzt besonders inbrünstig gesungen: »Ich wäre ja so gern noch geblieben ...« Immer bleibt nur das, was von einer Revolution verschont bleibt. Deshalb braucht die Welt lange Schonzeiten fern von Revolutionen.

Gern stehen die Menschen in diesem Theater mit dem Gesicht zur Wand, ein Marthaler-Erkennungszeichen, aber die Wand weicht nicht, die entscheidenden Mauern werden nie fallen. Marthaler zeigt das Biedere als Barock; das Kranke erscheint als das Gesunde, das Provinzielle als das Weltumspannende. Er zeigt Leben als Abfolge von Dingen, die wir außerhalb der Kunst nur deshalb überstehen, weil wir einen entscheidenden Gedanken verdrängen: dass sich immer schwerer vereinbaren lässt, ein Gewissen zu haben und trotzdem heiter auf die Straße zu gehen. Also lobt das Theater dieses genialen Momente-Malers den Zwischen-Raum, das Niemands-Land. Bevölkert von Abgefallenen, Durchgefallenen, Hingefallenen, Ausgefallenen. Es sind Missratene, die nicht wissen wollen, ob sie vor oder nach der Apokalypse leben. Sie tanzen Apocalypso - in einem Vakuum der verrücktesten Bewegungszwänge und Körperverdrehtheiten.

Christoph Marthaler, der an diesem Montag 65 wird, rührt nicht an den Schlaf der Welt, er ist der Schlaf. Sein Theater ist der Schlaf der Vernunft, und der gebiert keine Monster, sondern den irrwitzigen Traum, das böse Erwachen fände nicht statt. Dann nämlich, wenn die vermeintliche Vernunft ans Tagwerk geht und wir uns wieder mal die Augen reiben müssen.

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