nd-aktuell.de / 02.11.2016 / Politik

Türkische Journalisten gründen Bürgersender im Internet

Kritische Berichterstattung ist unter Erdogan kaum mehr möglich - jetzt wurde ein Kanal gegründet, der keine Redaktionsräume braucht

Ismail Küpeli

Recep Tayyip Erdogan räumt seit dem Putschversuch Mitte Juli knallhart auf, er selber spricht von »Säuberungen«. Mehr als 160 Medien und Verlage sind geschlossen worden, mehr als 100 Journalisten sitzen in Haft. Das Instrument dafür: Der Ausnahmezustand, der Regierung und Präsident weitreichende Vollmachten gibt – und der die Schließung von Medien erlaubt, falls diese »die nationale Sicherheit bedrohen«.

Zudem werden jeden Tag Dutzende Staatsbedienstete entlassen, zahlreiche Oppositionelle festgenommen und verhaftet und der Krieg in den kurdischen Gebieten fordert ebenfalls Tag für Tag neue Opfer.

Die jetzigen Angriffe auf die Tageszeitung »Cumhuriyet« zeigen, dass sich inzwischen niemand mehr sich sicher fühlen kann. Selbst die »Cumhuriyet«, die älteste Tageszeitung der Türkei und eine Institution in der Türkischen Republik, könnte zerschlagen werden – so das Signal an die Bevölkerung und an das Ausland.

Zuvor wurden in zwei Wellen vergangenen Monat fast alle verbliebenen linken und kurdischen Medien zerschlagen. Anfang Oktober wurden zwölf Fernsehsender und elf Radiosender verboten, darunter der letzte linke und prokurdische Fernsehsender IMC TV, Fernseh- und Radiosender der alevitischen Minderheit und das kurdische Kinderfernsehsender Zarok TV. Ende Oktober folgte die Zerschlagung von 15 kurdischen und prokurdischen Medien, darunter die Nachrichtenagentur »Dicle Haber Ajansi« und die Frauennachrichtenagentur »JINHA«. Insbesondere für die Berichterstattung über den Krieg in den kurdischen Gebieten der Türkei hat dies entscheidende Konsequenzen, weil ohne die kurdischen und prokurdischen Medien nur noch die Darstellung der türkischen Regierung und der türkischen Armee die Öffentlichkeit erreichen.

Allerdings wäre es ein Missverständnis anzunehmen, dass die linken und kurdischen Medien zuvor frei arbeiten konnten. Es wurden immer wieder JournalistInnen festgenommen, sei es wegen »Beleidigung des Staatspräsidenten« oder wegen »Terrorpropaganda«, oder sie wurden unrechtmäßig in ihrer Arbeit behindert – etwa durch willkürliche Zugangsbeschränkungen.

In diesen Zeiten, in denen fast alle größeren Medien entweder unter der Kontrolle der Regierungspartei AKP stehen oder zumindest regierungskonform berichten, bedeutet diese Zerschlagung der linken und kurdischen Medien, dass ein kritischer Journalismus über die herkömmlichen Wege nicht funktioniert. Eine Reaktion darauf ist die Initiative #HaberSizsiniz von JournalistInnen genau jener zerschlagenen linken und kurdischen Medien. #HaberSizsiniz ist ein Nachrichtenfernsehsender, der nicht über Frequenzen oder Ähnliches ausgestrahlt wird, sondern über soziale Netzwerke (z. B. Twitter) und Smartphone-Tools wie etwa Periscope. Die Produktion ist ebenfalls dezentral und benötigt keine festen Redaktionsräume. Prinzipiell soll jeder dazu ermächtigt werden, über Ereignisse zu berichten. Die dezentrale Berichterstattung soll davor schützen, dass die Regierung durch Verbote und Schließungen dagegen vorgehen kann.

An Mut und Trotz mangelt es den beteiligten JournalistInnen und AktivistInnen nicht, dies konnte bei den ersten »Sendungen« bereits beobachtet werden. Die Probleme liegen anderweitig. Zum einen kann damit gerechnet werden, dass – sobald #HaberSizsiniz und ähnliche Projekte mit ihrer Kritik an der Regierungspolitik tatsächlich viele Menschen erreichen – die Regierung auch hier mit Festnahmen und Verhaftungen der beteiligten JournalistInnen reagieren wird. Dies zeigen Erfahrungen von kleineren Nachrichtenportalen in den vergangenen Jahren. Zum anderen gibt es bisher kein Finanzierungsmodell für einen Journalismus über soziale Netzwerke. Bisher beruhte die Berichterstattung über Twitter und ähnlichen Netzwerken darauf, dass diese kritischen JournalistInnen bei »klassischen« Medien beschäftigt waren und darüber ihren Lebensunterhalt bestreiten konnten. Mit der Zerschlagung dieser »klassischen Medien« fällt auch die finanzielle Grundlage für dieses Modell weg.

So bleibt bei aller Bewunderung für die JournalistInnen in der Türkei, die trotz alldem noch für Pressefreiheit streiten, auch Skepsis darüber, ob die Rettung der Pressefreiheit gegen eine Regierung, die zu allem entschlossen ist, gelingen kann.