Vor den Vätern sind die Söhne gestorben

Howard Spring: Sein Roman »O Absalom« stellt eindringliche Fragen nach Schuld und Verantwortung

  • Sabine Neubert
  • Lesedauer: 4 Min.

Ein junger Bekannter drückte mir den Band in die Hand. Ein wunderbares Buch, sagte er, ein Erbstück offenbar, das er wie einen wertvollen Schatz bewahrt. Wie kamen wir darauf? Vielleicht durch ein Gespräch über den Ersten Weltkrieg und die jüngst zu diesem Thema erschienene Literatur. Mit seinen schon vergilbten Seiten stammt das Buch aus der Zeit, als Romane noch in Leinen gebunden wurden: 1970 ist es, immerhin in 6.(!) Auflage, bei Volk und Welt Berlin erschienen. Ich erinnerte mich kaum noch an den Inhalt oder gar den Gehalt des Romans. Dass ich hier große, bedeutende englische Literatur des frühen 20. Jahrhunderts, ja Weltliteratur, in der Hand halte, wird mir jetzt erst beim Wiederlesen bewusst.

Im Jahr 1938 ist Howard Springs Roman »O Absalom« in London erschienen. Dass er (in deutscher Übersetzung mit dem Titel »Geliebte Söhne«) heute bestenfalls antiquarisch zu erwerben ist, lässt sich kaum erklären, zumal es ein Werk auch über den Ersten Weltkrieg ist, ein Buch über Zeitbrüche und über Verwüstungen in menschlichen Seelen durch den Krieg. Aber es ist noch mehr: ein soziales und kulturelles Panorama, das den Bogen um ein halbes Jahrhundert vehementer Veränderungen spannt. Es enthält einen Generationskonflikt und stellt eindringliche Fragen nach Schuld und Verantwortung.

Zu Beginn des Romans erinnert die Schilderung sozialer Ungleichheit und Armut zu viktorianischer Zeit in Manchester an die bitteren, aber leichtfüßigen Erzählungen von Charles Dickens - und schafft somit auch ein nostalgisches Gefühl für die traurige Schönheit verlorener Zeit und verlorener Dinge unserer Großväter und Urgroßväter. Das Buch endet im Jahr 1922 so abgründig und ausweglos wie ein Dostojewski-Roman (oder wie die biblische Erzählung von Absalom, dem verfluchten Sohn König Davids, der sich in einer Schlacht mit seinen langen Haaren an einem Baum erhängt). In fünf großen Kapiteln schreiten Geschehnisse von Wandlung und Verfall voran. Die bildreiche Erzählweise des Autors ermöglicht dem Leser allerdings eine gewisse innere Distanz und macht ihn zum Betrachter, ob der Autor eine ärmliche Straße und eine alte Backstube in Manchester schildert, ein Varieté-Theater in London oder eine traumverlorene Wasserbucht unter nächtlichem Sternenhimmel in Cornwall, wo zwei Menschenseeelen, die zusammen gehören, doch nicht zusammenfinden.

Immer wieder gibt es Rückblicke und Erinnerungen an frühere, schöne Zeiten, so als wolle der Ich-Erzähler sie für sich selbst und für die Leser festhalten. Wir werden also zunächst mitgenommen nach Manchester, wo William Essex, der Ich­Er-zähler, als Kind einer Wäscherin in sehr armen Verhältnissen aufwächst und viele Demütigungen von Gleichaltrigen erfahren muss. Aber er wird dadurch auch durchsetzungsfähig, fleißig und zielstrebig. Er heiratet in eine Bäckerei ein - zwar ohne leidenschaftliche Liebe, aber doch mit einer lebenslangen Achtung für seine sittenstrenge Frau Nellie. Ein kleines ererbtes Kapital ermöglicht es ihm, zusammen mit seinem Freund Dermot eine ertragreiche Spielzeugfabrik zu gründen und so seine große Neigung, das Schreiben, zu verwirklichen. Er wird ein erfolgreicher Romanautor und Dramenschreiber. Begleiter auf dem Weg nach oben ist der Jugendfreund Dermot O’Riorden, ein kunstsinniger Möbeltischler mit irischen Wurzeln, der es mit seinen modernen Kunstläden ebenfalls zu Wohlstand bringt.

Beide Freunde und beide Familien sind und bleiben eng mit einander verbunden, und beiden wird fast gleichzeitig ein Sohn geboren. William und Dermot sind fest entschlossen, ihren Söhnen den Weg in ein gutes Leben zu bahnen. Während 0’'Riorden seinen Sohn Rory zum irischen Patrioten erzieht und zur Ausbildung nach Dublin schickt, verwöhnt William sein einziges Kind, den Sohn Oliver, von klein an viel zu sehr. Der soll es leichter und besser als sein Vater in der Kindheit haben. Er erfüllt ihm jeden Wunsch und verschafft ihm alle Annehmlichkeiten.

Aber Oliver, schön, selbstbewusst und verwöhnt, wird zum rücksichtslosen Egoisten. Nach dem Tod der Mutter entfremdet er sich mehr und mehr dem Vater, einen eigenen sinnvollen Weg kann er nicht finden. Dann bricht der Krieg aus. Oliver wird Offizier, erhält eine Reihe von Orden und gerät in Gefangenschaft. Seelisch verroht, kommt er zurück.

Nun lebt er weit über seine finanzielle Verhältnisse, doch von seinem Vater will er nichts mehr wissen und auch keine Unterstützung haben. Als es im Jahr 1922 in Irland zu nationalen Erhebungen kommt, wird er Befehlshaber einer englischen Freiwilligentruppe dort, und - wie das Schicksal so spielt - bei einem Gefecht mit den irischen Aufständischen unter Rorys Befehl erschießt er seinen früheren Freund unwissentlich. Als ihm das zu Bewusstsein kommt, ist es zu spät. Zurück in London, lebt Oliver nun maßlos und ziellos und begeht schließlich ein furchtbares Verbrechen. Das Gericht verurteilt ihn zum Tode.

Vor den Vätern sind die Söhne gestorben. Eigenes Erleben Howard Springs ist in das Buch eingeflossen. Den alt gewordenen Freunden William und Dermot bleiben am Ende nur die Fragen des Autors selbst nach dem Sinn von Aufstieg, Reichtum und Fortschritt, aber auch nach individueller und gesellschaftlicher Verantwortung. Antworten gibt es nicht.

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