Wenn Armut politisch gewollt ist

Sozial- und Wohlfahrtsverbände fordern neues Verfahren zur Festlegung der Hartz-IV-Regelsätze

  • Maria Jordan
  • Lesedauer: 3 Min.

17 Cent am Tag. Um diesen Betrag soll sich der Hartz-IV-Regelbetrag für alleinstehende Erwachsene ab nächstes Jahr erhöhen. Für 17 Cent kann man sich leider nur schwer ein schöneres Leben machen; weder einen Apfel, ein Brot noch einen Saft kann man für 17 Cent erwerben. Selbst wenn man diese 17 Cent pro Tag beiseite legt, kann man sich von den fünf ersparten Euro im Monat noch immer keinen Kinobesuch, kein Mittagessen in einer Gaststätte und auch kein Hin- und Rückfahrticket für die Berliner U-Bahn leisten.

Stattdessen könnte man fünf Jahre lang 1,65 Euro im Monat auf die hohe Kante legen, um sich anschließend von dem Ersparten einen neuen (gebrauchten) Kühlschrank für 112 Euro zu gönnen. Diesen Richtwert jedenfalls sieht die schwarz-rote Bundesregierung vor. Sie hat das Ergebnis aus einer Stichprobenmenge von 30 Haushalten ermittelt, die in dem Befragungszeitraum von drei Monaten einen Kühlschrank gekauft haben.

Die Hartz-IV-Regelsätze werden aus dem Konsumverhalten einkommensschwacher Haushalte abgeleitet. Genauer: den ärmsten 15 Prozent. Datengrundlage ist die sogenannte Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS), eine Haushaltbefragung, die das Statistische Bundesamt durchführt. Genau da liegt die Krux: »Die EVS gibt nur darüber Auskunft, was einkommensschwache Haushalte ausgeben können«, heißt es in der gemeinsamen Erklärung des »Bündnis für ein menschenwürdiges Existenzminimum«, dem Sozial- und Wohlfahrtsverbände sowie Erwerbslosengruppen angehören. Diese Daten dürften aber nicht mit einer Bedarfsdeckung gleichgesetzt werden. Das Bündnis wirft der Bundesregierung vor, das Existenzminimum aus politischen Gründen kleinzurechnen.

»Das Existenzminimum darf nicht auf das physiologisch Notwendige reduziert werden, sonst wird die Würde des Menschen beschädigt«, warnt die Sprecherin des Bundeserwerbslosenausschusses der Gewerkschaft ver.di, Ulla Pingel. Der Regelsatz schließe Hartz-IV-Bezieher aus dem gesellschaftlichen Leben aus, nicht einmal die Mobilität sei ausreichend gewährleistet. Und sogar Weihnachten fällt wohl aus: Der Tannenbaum ist nur eins der vielen Dinge, die als Luxusgut aus dem Regelsatz gestrichen wurden.

Nicht nur darunter leiden besonders Kinder aus betroffenen Familien. Auch das Eis im Sommer, Malstifte und Eintrittskarten für Schulveranstaltungen wurden als unnötig gestrichen. Kinder bis sechs Jahre sind außerdem von der Erhöhung der Sätze ausgenommen.

»Die Hartz-IV-Regelsätze sind nicht bedarfsdeckend und müssen grundsätzlich neu ermittelt werden«, lautet das Fazit des Bündnisses. »Die Bundesregierung hat viele Stellschrauben so justiert, dass zwangsläufig niedrige Regelsätze herauskommen müssen«, kritisiert das DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach. Sie bezeichnet das Vorgehen der Regierung als »militantes Kleinrechnen« des Leistungsbedarfs. Sahra Wagenknecht, Vorsitzende der Linksfraktion, nennt die Erhöhungen um 5 Euro im Monat den »blanken Hohn«. Statt bei der Berechnung des notwendigen Bedarfs immer wieder zu tricksen, müssten die Regelsätze auf 560 Euro erhöht und demütigende Drangsalierungen abgeschafft werden. »Hartz IV bedeutet unverändert Armut per Gesetz«, so die Fraktionschefin.

Das Bündnis fordert neben der Lebensrealität entsprechenden Regelsätzen Soforthilfen, um die Lebenslage der Betroffenen »unmittelbar spürbar zu verbessern«. Darunter fallen einmalige Zahlungen für langlebige Güter wie Waschmaschinen und Kühlschränke oder gesundheitliche Bedarfe wie eine neue Brille. Es soll mehr Geld für den Schulbedarf bereitgestellt werden, der Eigenanteil beim Schulessen soll wegfallen.

Das Gesetzgebungsverfahren zu den geplanten Regelsätzen geht am 9. November in die entscheidende Phase. Auch der Bundesrat muss noch zustimmen.

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