nd-aktuell.de / 09.11.2016 / Kultur / Seite 14

»Ich kaufe nie wieder Schuhe mit diesem Namen«

Vera Friedländer war Zwangsarbeiterin bei Salamander und ist empört über Schönfärbungen in der Unternehmensgeschichte

Karlen Vesper

Mit der »Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben« vom 12. November 1938, drei Tage nach der Reichspogromnacht, in der deutschlandweit Synagogen brannten, begann die systematische Enteignung und Beraubung der deutschen Juden, im NS-Jargon »Arisierung« genannt. Die Schuhfabrik Salamander hatte sich da schon längst selbst »arisiert«. Jüdische Mitarbeiter und Aktionäre, darunter die seit den Gründerjahren beteiligten Familien Levi und Rothschild, waren 1934 von der Kornwestheimer Firmenleitung entlassen oder »ausgezahlt« worden.

Der damalige Generaldirektor Alex Haffner wusste, dass der neue Reichkanzler Hitler einen neuen Weltkrieg entfachen würde. Und für einen solchen bedurfte es nicht nur Panzer und Flugzeuge, sondern auch Stiefel und Koppel für die Soldaten. Zu Hitlers Geburtstag im April 1933 spendete Haffner dem der NSDAP im Namen der Firma 10.000 Reichsmark und wurde vom »Führer« zum Tee eingeladen. »Seine Rechnung schien aufzugehen«, schreibt Vera Friedländer. Allerdings galt Salamander zu dieser Zeit noch als »stark jüdisch belastet«. Die Geschäfte der Firma wurden in den ersten Monaten der NS-Diktatur boykottiert. Ergo »reinigte« man sich rasch um des Profits Willen.

Vera Friedländer hat als »Halbjüdin« Zwangsarbeit bei Salamander leisten müssen. Darüber berichtete die Germanistikprofessorin und Mitbegründerin des Jüdischen Kulturvereins Berlin schon in ihrem Buch »Man kann nicht eine halbe Jüdin sein«. Der Titel bezog sich auf die Äußerung eines polnischen Zwangsarbeiters, der nicht wissen konnte, welch mörderischen Etikettierungen die deutschen Antisemiten in ihren Nürnberger Rassegesetzen von 1935 ersonnen hatten. Vera Friedländer ließ nun ihrer persönlichen Geschichte eine prinzipielle Auseinandersetzung folgen, denn: »Verantwortung und Schuld des Salamander-Konzerns kann ich nicht als erledigt beiseite legen.«

Kurz vor Weihnachten 1944 bekam sie den Verpflichtungsbescheid, sich im Berliner Reparaturbetrieb der renommierten Schuhfirma in der Köpenicker Straße, unweit der Warschauer Brücke, zu melden. Die 16-Jährige wurde eine von den mehr als acht Millionen Zwangsarbeitern reichsweit und 300 000 in Berlin. »Ich kam, bevor die Sonne aufging, und durfte das Gelände verlassen,wenn es wieder dunkel war«, erinnert sich die heute 88-Jährige. Sie hatte zur Reparatur eingelieferten Schuhe in verschiedene Karren zu sortieren, je nach notweniger Ausbesserungsarbeit: Steppen, Kleben oder Besohlen. »Die Karren rollten schwer«, berichtet Vera Friedländer. Dem jungen Mädchen wurde oft schwindlig, »auch vom leeren Magen«. Sie wollte indes keine Schwäche zeigen, damit es ihr nicht wie dem Mädchen an ihrem Arbeitsplatz vor ihr ergeht. Und die Drohung des SS-Aufsehers war deutlich genug: »Wenn ihr nicht arbeiten wollt, dann ab mit euch ins Lager.«

Die deutsche »Halbjüdin« freundete sich trotz strikten Sprechverbots mit einem polnischen Zwangsarbeiter an. Jacek erzählte ihr von seinem Heimatdorf, seiner Frau und seinen beiden kleinen Kindern. Und Vera informierte ihn täglich über die Lage an der Front, von der sie durch heimliches Hören von »Feindsendern« wusste. Als sie Jacek eines Morgens, Anfang Februar 1945, den Namen des Ortes nannte, auf dessen Nennung er tagelang gewartet hatte, der nächst größere unweit seinem Dorfes, jubelte er leise: »Sie sind frei!« Danach sah Vera ihn nicht wieder. Von einer Serbin erfuhr sie, dass der polnische Leidensgefährte geflohen sei. »Viel Glück auf den Weg, Jacek, dachte ich. Und sei wachsam, wenn du die Front passierst.«

Im Reparaturbetrieb von Salamander in Berlin mussten an die 60 Zwangsarbeiter, außer Polen und Serben auch Franzosen sowie Deutsche nicht »arischer« Abstammung wie Vera schuften. Ihr Vater war zur »Organisation Todt« zwangsrekrutiert worden, weil er sich nicht von seiner jüdischen Frau scheiden ließ. Noch heute grenzt es für Vera Friedländer an ein Wunder, dass ihre Mutter, Jüdin, bis Kriegsende unbehelligt blieb, während viele Verwandten in Auschwitz, Theresienstadt und in anderen Vernichtungslagern ermordet worden sind. Die Autorin vermutet, eine Widerstandsgruppe im Berliner Arbeitsamt habe ihrer Mutter das Leben gerettet, in dem man deren Registrierungsmarke verschwinden ließ.

Anfang März 1943 hatte sich die Mutter bereits in den Klauen der Judenmörder befunden, war im Rahmen der sogenannten Fabrikaktion verhaftet und in die Große Hamburger Straße in Berlin verschleppt worden. Mit ihrem Vater und Angehörigen weiterer festgenommener Juden harrte Veronika Schmidt (so der Geburtsname von Vera Friedländer) trotzig wie mutig vor der Gestapo-Sammelstelle aus, bis ihre Mutter und die anderen aus »Mischehen« freigelassen werden mussten.

In ihrem neuen Buch bildet das persönliche Erleben die Klammer zu einer grundsätzlichen Auseinandersetzung mit dem Unwillen deutscher Unternehmen, sich zu Schuld und Mitschuld in Nazideutschland zu bekennen. Noch in den 1990er Jahren leugnete man in Kornwestheim die Verstrickung von Salamander in NS-Verbrechen. Man bestritt auch, in der Reichshauptstadt eine Reparaturwerkstatt unterhalten zu haben. Doch das Arbeitsbuch der Vera Friedländer überführte die Leugner der Lüge.

In scharfer Polemik zum Haushistoriker Hanspeter Sturm, der bis zu seinem Tod 2011 keinerlei Veranlassung sah, seine geschönte Geschichte des Werkes aus den 1950er Jahren zu korrigieren, sowie gestützt auf jüngste akribische Forschungen zweier Historikerinnen, Anne Sudrow und Petra Bräutigam, berichtet Vera Friedländer, welch riesige Profite das Unternehmen in der NS-Zeit erzielte. Nicht nur durch die Ausstattung der Wehrmacht und Ausbeutung von Zwangsarbeitern. Ab Frühjahr 1940 besaß Salamander im KZ Sachsenhausen eine »Schuhprüfstrecke«, über die stundenlang und ohne Pause die Häftlinge gejagt wurden, um Material zu testen. Salamander verdiente überdies an der Belieferung der Konzentrationslager mit Holzschuhen und erhielt außerdem zu weiterer Verwertung die Hinterlassenschaften der in den Gaskammern der Vernichtungslager ermordeten Menschen. Im Krieg hat sich das Kapital der Schuhfabrik fast verdoppelt. Salamander stand somit auch in der Nachkriegswirtschaft gut da (aus der Krise in den 1970er Jahren wurde die Firma ausgerechnet vom antifaschistischen ostdeutschen Staat durch Lizenzproduktion gerettet).

Man kann die Empörung von Vera Friedländer gut verstehen. Und auch die Genugtuung nachempfinden, die sie nach an einer Lesung im Lübecker Buddenbrook-Haus verspürte, als ein junger Mann auf sie zutrat, auf sein Schuhwerk wies und fest entschlossen erklärte: »Ich kaufe nie wieder Schuhe mit diesem Namen.« Er trug Salamander.

Vera Friedländer: Ich war Zwangsarbeiterin bei Salamander. Das Neue Berlin. 223 S., br., 14,99 €.