Bitte fass mich an!

Einfühlsame Berührungen steigern unser Wohlbefinden und haben häufig gesundheitsfördernde Wirkungen

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 5 Min.

Zu den ältesten Behandlungsritualen der Menschheit gehört das Handauflegen. Denn die aufgelegte Hand strahlt Wärme aus und gibt Menschen das Gefühl von Geborgenheit. Das gilt im Prinzip für alle einfühlsamen Berührungen, von denen manche die Prozesse in unserem Körper sogar unmittelbar beeinflussen. So führen innige Umarmungen, namentlich bei Verliebten, zu einer Senkung von Pulsschlag und Blutdruck. Regelmäßiges Kuscheln stärkt überdies das Immunsystem, da sich mit dem emotionalen Empfinden auch unser körperlicher Zustand verändert: Die Produktion von Stresshormonen wie Cortisol wird gedrosselt, die Ausschüttung von immunstärkenden Botenstoffen gesteigert. Berührungen haben so gesehen eine psychosomatische Wirkung, die man sich auch bei der Behandlung von Krankheiten zunutze macht.

Beispiel Krebs. Durch massageähnliche Berührungen lässt sich die körperliche und seelische Verfasstheit von Tumorpatienten deutlich verbessern. Das ergab eine Studie, die ein Forscherteam um William Collinge vom National Cancer Institute in Bethesda (USA) durchführte. Menschen, die an Krebs erkrankt sind, leiden bekanntlich häufig unter Schmerzen, Übelkeit und Erschöpfung. Dass zur Linderung solcher Symptome eine professionelle Massage hilft, ist schon länger bekannt. Die neue Erkenntnis lautet: Auch Verwandte oder Freunde von Krebskranken können durch streichelnde, massageähnliche Berührungen den gleichen Effekt erzielen. »Das hat nicht nur für das Wohlbefinden des Patienten Konsequenzen«, meint Collinge, »sondern auch für das seiner Betreuer.« Denn diese würden häufig selber krank, da es für sie in hohem Maße belastend sei, geliebten Menschen bei ihrem Kampf gegen den Krebs tatenlos zusehen zu müssen.

Eines freilich soll an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben: Mit dem Thema Heilen durch Berührung wird auch viel esoterischer Unfug getrieben. In den USA beispielsweise erfreut sich seit Längerem eine alternative Behandlungsmethode namens Therapeutic Touch (TT) großer Beliebtheit. Hierbei wird, anders als die Bezeichnung suggeriert, die Hand des »Heilers« nicht direkt aufgelegt, sie befindet sich vielmehr etwas über der Haut des Patienten. Dennoch sollen sich durch TT Schmerzen lindern und verschiedene Hautkrankheiten (Gürtelrose, Neurodermitis etc.) erfolgreich behandeln lassen.

Wie soll das funktionieren? Von den Händen des »Heilers« gehe ein Energiefeld aus, das die Hautstruktur der behandelten Menschen beeinflusse, erklärt der neuseeländische Arzt Robin Youngson und fügt hinzu, dass dafür »eine überwältigende wissenschaftliche Evidenz« vorliege. Ein Irrtum. In keiner wissenschaftlich kontrollierten Studie konnte die Wirksamkeit von TT belegt werden. Die berichteten Erfolge bei der Behandlung von Hauterkrankungen sind aller Wahrscheinlichkeit nach auf den Placeboeffekt zurückzuführen.

Als soziales Wesen verfügt der Mensch über eine hohe taktile Kompetenz. Bereits in der achten Schwangerschaftswoche reagiert ein Embryo, lange bevor er hören oder sehen kann, auf Berührungen. Nach der Geburt sind Streicheleinheiten von Seiten der Eltern die erste Anerkennung für einen Säugling, dem dadurch gleichsam das Gefühl vermittelt wird: Du bist auf dieser Welt willkommen, wir sorgen für dich. Wie wichtig, ja lebensnotwendig körperliche Zuwendungen für Kinder sind, offenbarte ein grausames Experiment, das Kaiser Friedrich II. im 13. Jahrhundert durchführen ließ. Er befahl Ammen von Waisenkindern, ihre Zöglinge nur mit Nahrung zu versorgen und notdürftig zu waschen, sie aber weder anzusprechen noch irgendwie zu liebkosen. Laut Überlieferung starben alle Kinder.

Aber nicht nur für die körperliche Entwicklung von Kindern, auch für die Reifung des Gehirns sind Berührungserfahrungen unerlässlich. Bekanntlich versuchen Babys alles anzufassen, was in die Reichweite ihrer Hände gelangt. Sie eignen sich auf diese Weise ihre Umwelt buchstäblich begreifend an, während sie durch das Berührtwerden ihre Identität formen.

»And when I touch you, I feel happy inside«, sangen die Beatles 1963 in ihrem Hit »I Want to Hold Your Hand«. Mancher dürfte hier nostalgisch werden. Denn in unserer hochdigitalisierten Welt sind reale Berührungen zwischen Menschen beinahe so etwas wie ein Auslaufmodell. Computer, Smartphone und Facebook treiben die Entkörperlichung der Gesellschaft unaufhaltsam voran. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass unser Alltag voller erotischer Angebote ist: Berührungen, die über das rein Sexuelle hinausgehen, finden immer seltener statt. Noch nie hatten Menschen so wenig Haut-zu-Haut-Kontakt wie heute. Zwar geben wir uns bei der Begrüßung oder beim Abschied die Hand, manchmal deuten wir dabei sogar einen Kuss an. Doch solche Bewegungsabläufe wirken oftmals steif und aufgesetzt. Sie gehören ebenso wie das flüchtige Umarmen zur sozialen Routine und taugen in der Regel nicht dazu, emotionale Nähe zu vermitteln.

Dabei sind viele Menschen geradezu süchtig nach zärtlichen Berührungen. Und das nicht nur vor oder nach dem Sex. Rund um den Globus trifft man sich heute zu sogenannten Kuschelpartys, die anfangs lediglich den Zweck erfüllten, neuen Schwung in lahmende Beziehungen zu bringen. Inzwischen nehmen daran Personen teil, die sich untereinander nicht kennen, und die bei sanften Berührungen das Gefühl genießen, als Individuen begehrenswert zu sein. Um zu verhindern, dass daraus eine plumpe Anmache wird, überwachen geschulte Trainer die Einhaltung der Kuschelregeln. Denn für manche Menschen dient allein das Berühren anderer der sexuellen Erregung und Befriedigung. Sogenannte Frotteure wären hierfür ein Beispiel. Sie reiben sich, zumeist im Gedränge, an fremden Personen, die dies weder wollen noch schön finden. Frotteurismus ist eine vor allem von Männern praktizierte Form der Annäherung, die im Diagnose-Klassifikationssystem der Medizin den Störungen der Sexualpräferenz zugeordnet wird.

Es trifft sicherlich zu, dass ein Großteil der psychischen Erkrankungen die Folge von Vereinzelung und Vereinsamung, von Berührungs- und Körperlosigkeit ist, wie Martin Grunwald vom Haptik-Forschungslabor der Universität Leipzig betont. Gleichwohl gibt es nicht wenige Menschen, die körperliche Nähe scheuen. Weder wollen sie selbst berührt werden, noch verspüren sie die geringste Neigung, andere zu berühren. Psychologen machen dafür häufig frühkindliche Erfahrungen verantwortlich wie körperliche Misshandlung oder sexuellen Missbrauch. In solchen Fällen mag eine Therapie durchaus hilfreich sein. Zu bedenken bleibt jedoch, dass Menschen in verschiedenen Phasen und Situationen ihres Lebens sehr unterschiedlich auf Berührungen reagieren. So können sich zum Beispiel Pubertierende nichts Peinlicheres vorstellen, als von ihren Eltern in der Öffentlichkeit angefasst zu werden. Später legt sich das meistens wieder.

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