Nichts umgeschrieben, nichts bedauert

Werner Heiduczek wird neunzig: Mit «Tod am Meer» sorgte er für Furore, und seine Märchen werden bis heute geliebt

  • Michael Hametner
  • Lesedauer: 5 Min.

Ich habe nicht gewußt, wie sehr ich leben möchte.« Besser hätte ein Roman mit dem Titel »Tod am Meer« nicht beginnen können. Werner Heiduczek braucht einen Satz, den ersten, und Hochspannung ist aufgebaut. Ein großer Romananfang. Ein erster Satz eines Romans, den Literaturliebhaber in Deutschland kennen sollten. Vielleicht auch die Geschichte dieses ersten Satzes und des Romans.

Ursprünglich lautete er: »Angesichts des Todes beginnt das Verhalten des Menschen rein zu werden«. - Das hat er später gestrichen, weil »ich inzwischen erfahren musste, dass dieser Satz so nicht stimmt. Die Angst vor der Wahrheit, die sich angesichts des Todes unverhüllt zeigt, kann größer sein als die Angst vor dem Sterben.« Heiduczek hatte keine Angst vor der Wahrheit und hat, was ein stellvertretender Minister in der DDR stellvertretend für noch höhere Geister an Umarbeit von ihm erwartete, nicht geleistet! Nichts gestrichen, nichts umgeschrieben, nichts bedauert.

Die Geschichte zu Ehren seines 90. Geburtstags von vorn erzählt: Geboren wurde er am 24. November 1926 im oberschlesischen Hindenburg. Dem Krieg als Flakhelfer und der russischen Kriegsgefangenschaft heil und glücklich entkommen, begann er 1946, da war er zwanzig, in der sowjetischen Besatzungszone einen Kurs als Neulehrer. Die Karriere überschlug sich mangels unbelastetem Personal. Schon 1952 war er Kreisschulrat in Merseburg. Aber er, der im Auftrag der Ideologie kein Volksbildner sein wollte, blieb im Schuldienst nur bis 1961. In diesem Jahr erschien sein erstes Buch, die Erzählung »Matthes und der Bürgermeister«. Das Schreiben von Literatur diente als Begründung, um die ungeliebte Volksbildung verlassen zu können. Christa Wolf, im Mitteldeutschen Verlag beim ersten Buch seine Lektorin, soll ihm gesagt haben: Werner, wenn du dich unbedingt gedruckt sehen willst, kannst du es so lassen, wenn du es ernst meinst, besser nicht. - Nicht unempfänglich für schnellen Erfolg, ließ Heiduczek das Manuskript, wie es war. Auch sein erster Roman »Abschied von den Engeln« von 1968 ist heute nicht mehr gut zu lesen. Dem Anfänger ging es wie dem Altersgefährten Günter de Bruyn, der nachträglich seinen Anfang in Verballhornung des Romantitels »Der Hohlweg« der Holzweg nannte. Wie de Bruyn schaffte es Heiduczek, den Holzweg zu verlassen. Sein zweiter Roman »Tod am Meer« lohnt unverändert die Lektüre und ist ein Buch aus dem Kanon deutscher Literatur des 20. Jahrhunderts - aus Mangel an altbundesdeutschen Mitlesern unter den Rankingmachern vermutlich aber nur meines Kanons. Der Roman erschien 1977, ein Jahr danach dann »Es geht seinen Gang« von Erich Loest, beide im Mitteldeutschen Verlag, der jetzt kräftig im Feuer stand.

Bücher haben Schicksale, man weiß es. Bücher, die sich in der DDR gegen die Zensur behaupten mussten, hatten meist schwere Schicksale. Werner Heiduczek hat seines bestanden. Heute, als Neunzigjähriger, strahlt er mich an und sagt, dass er noch das Exemplar besitzt, in dem der für Literatur zuständige Minister Klaus Höpke seine Änderungswünsche buchhalterisch notiert hat. Keinen Wunsch hat ihm der Jubilar von heute erfüllt. Er grinst lausbübisch, als er es sagt. Das besondere Schicksal von »Tod am Meer« bestand darin, dass der Roman 1977 mit viel Einsatz von Verlag und Gutachtern in der DDR erschienen ist, aber dann von denen, die Angst vor Büchern hatten, wieder unsichtbar gemacht werden sollte. Zu allen Zeiten gibt es Liberale und Hardliner. Auf den Grund zur Rückrufaktion kamen die Hardliner vermutlich nicht einmal selbst.

Der damalige sowjetische Botschafter in der DDR, ein Mann mit eitel-bläulichen Haaren, hatte interveniert. Es ging um Vergewaltigungen deutscher Frauen und anderer Übergriffe auf die deutsche Bevölkerung nach dem Krieg, es ging um eine bessere Beurteilung des amerikanischen als des sowjetischen Besatzungsregimes und einiger anderer »Unmöglichkeiten« im Roman eines DDR-Autors. Es ging um das in Heiduczeks Roman, was für sie nicht ging. Vermutlich war dieser Brief nicht einmal auf dem Mist des sowjetischen Botschafters gewachsen, sondern eines Denunzianten aus dem DDR-Apparat. Aber wie dem auch sei, der Roman von Heiduczek blieb danach lange von der Bildfläche verschwunden. So schrieben sich Seite um Seite in seinem Essayband »Vom Glanz und Elend des Schreibens« und in seiner Autobiographie »Die Schatten meiner Toten«. Weiß Gott, im zweiten Teil seines Lebens löst er mit Mut und Tapferkeit die Wahrheit des Satzes ein, der beinah der erste Satz seines Romans »Tod am Meer« geworden wäre: »Angesichts des Todes beginnt das Verhalten des Menschen rein zu werden.«

Nun - und das rühmt den Jubilar ein zweites Mal - Heiduczek hat das Schicksal seines Romans »Tod am Meer« nicht umgeworfen. Er hat begonnen, Märchen zu schreiben, Kunstmärchen. Eine kleine Erfahrung hatte er bereits 1968 mit »Jana und der kleine Stern« gesammelt. So richtig ging’s jetzt los, in der erzwungenen Ruhepause, als die Zensoren seinen Roman »Tod am Meer« irgendwo auf Eis gelegt und neun Jahre vergessen hatten.

Märchen, das war ihm sofort klar, kennen keine Grenzen, nicht »die der Geographie und nicht die der Ideologie«. Als sein Märchen »Der kleine hässliche Vogel« als Kinderbuch erscheinen sollte, gab’s wohl noch einmal ein paar Überängstliche, die darin eine übertriebene Feier des Individualismus vorbei am Kollektiv sahen, aber das Buch erschien. Absurde Deutung, denn der kleine hässliche Vogel, der sich wegen seiner Hässlichkeit verkriecht, wird von vielen gesucht und schließlich gefunden. Am Ende des Märchens hören die Tiere des Waldes mit einem Kloß im Hals seinem wundervollen Gesang zu. Und »Das verschenkte Weinen« ist als Kunstmärchen eine perfekte Parabel auf Berufsjubler und Berufsoptimisten, die glauben, das Weinen verschenken zu können. Irrtum, ohne Trauer wird keiner groß.

Noch heute erhält der Neunzigjährige, der vor fünf Jahren mit dem Schreiben aufgehört hat, Briefe von Lesern, jungen und alten, die ihm Dank sagen für »Das verschenkte Weinen«, »Der kleine hässliche Vogel«, auch für »Jana und der kleine Stern«, das erste Märchen des Meisters. Mit »Meister« spricht ihn übrigens sein Leipziger Wahl-Enkel Clemens Meyer an, der bei der Angabe seiner literarischen Ahnen in den Frankfurter Poetikvorlesungen Werner Heiduczek seinen Meister nennt.

Recht hat er.

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