Schemenhaft spiegelt sich der Mensch

»Neues Deutschland« - eine Ausstellung zeigt Fotos aus Randgebieten im »Raum für drastische Maßnahmen«

  • Sebastian Loschert
  • Lesedauer: 4 Min.

Deutschland ist nicht allzu groß, es gibt hier keinen Dschungel, keine unergründlichen Achttausender, abgelegene Inseln oder unendlich weite Wüsten. Dennoch scheint das ganz und gar Unbekannte hinter jeder Ecke zu lauern. Moritz von Uslar erklärte 2010 in seinem Roman Deutschboden treffend: »Ich haue ab von hier, dorthin, wo kaum ein Mensch je vor uns war - nach Hardrockhausen, Osten, nordöstliche Richtung, nicht zu weit weg, vielleicht eine Stunde von Berlin entfernt.«

Dass geographische Nähe und Vertrautheit nicht unbedingt zusammenhängen, hat auch der Journalist Alexander Osang Ende der 1990er Jahre bemerkt, als er einmal nach Hellersdorf zurückkehrte: »Ich bin in der Fremde. Es ist eine Exkursion. Eine Art Ausflug. Hellersdorf ist inzwischen weiter weg als Hamburg.« In Frankreich entdeckte der über 50-jährige Didier Eribon mit jugendlichem Erstaunen eine fremde Welt (wieder): das proletarische Milieu seiner Familie im 130 Kilometer entfernten Reims. Und nach der US-Wahl sind ethnografische Expeditionen zum unbekannten Wesen namens Wähler ohnehin gefragter denn je.

Nun widmet sich auch eine Fotoausstellung in Friedrichshain den »Randgebieten«. Titel: »Neues Deutschland«. Das Plakat zur Ausstellung erinnert entfernt an die Titelseite einer sozialistischen Tageszeitung. Weil die ehemalige DDR als ein einziges großes Randgebiet gesehen wird? Weil sich Verlag und Redaktion in einer Platte befinden? Genaues weiß man nicht, aber wie sich auf Nachfrage entlocken ließ, bezog sich die Gruppe von acht Künstlern bei der Namensfindung tatsächlich auf diese Zeitung. Mag sein, dass sich die Ost-West-Vergangenheit ihres Dozenten an der Ostkreuzschule, Jonas Maron, als Einfluss bemerkbar machte.

Wie Fotografin Helen Hecker sagt, wurde der Titel »Neues Deutschland« auch wegen seiner konzeptionellen Offenheit gewählt. Die Fotografen konnten so ihren eigenen Interpretationen und ihrer eigenen Bildersprache nachgehen. Tatsächlich decken die Bilder ein breites Spektrum ab, erzählen sowohl von deutschen »Nichtorten« wie spontanen Situationen, von Industriearchitektur oder intimen Begegnungen, legen das Augenmerk mal mehr auf politische, mal mehr auf ästhetische Aspekte.

So begleitet Helen Hecker in einer reportagenhaften Bilderstrecke einen gebürtigen Sizilianer während eines Ausflugs nach Marzahn-Hellersdorf. Wie sieht der Bezirk in den Augen dieses Menschen aus? Wohl eher noch ein bisschen trostloser und grauer, verständlicher wird er dem Betrachter dadurch nicht. Noch opaker erscheint die östliche Peripherie in den Schwarz-Weiß-Fotografien Mark von Wardenburgs: Hochhäuser, die im Dunkeln aufragen, Passanten-Blicke durch Scheiben in menschenleere Räume, Menschen allenfalls als schemenhafte Spiegelungen in Verkehrsmitteln.

Der Titel »Neues Deutschland« bedeutet für sie, sagt eine der Fotografinnen, »das Entstehen eines Bewusstseins dafür, dass außerhalb eines ›Wir‹, das scheinbar flächendeckend für politisch korrekte Überzeugungen, Werte und Meinungen steht, eine wachsende Unzufriedenheit die Vorgärten bestimmt«. Ihre kleinformatigen Bilder zeigen ländliche Leere und Piefigkeit jenseits dieses »Wirs«: Bolzplatz, Wald, Zaun, Fahne vor dem Haus. Die Bilder einer ihrer Seminarkolleginnen lichten etwa einen Besuch im Dorf der Großeltern ab und dokumentieren Situationen einer provinziellen Kirmes mit Kartenlesen und Büchsenwerfen.

Doch nicht immer ist die Randständigkeit geographisch bestimmt. Zwei weitere, eher düsterere Strecken etwa machen Freunde und Familie der beiden Fotografinnen selbst zum Gegenstand und lassen dem Besucher viel Raum zum eigenen Assoziieren. Niels Thorn gelangen abseitige Fotos, in denen die Frage nach Innen und Außen, Fremdem und Eigenem mit hintergründigem Witz behandelt wird.

Insgesamt dominiert in der Ausstellung jedoch ein Blick von außen auf die (ärmeren) Randgebiete, die in der Folge zumeist negativ, fragwürdig, menschenleer, unverständlich dem Betrachter erscheinen. »Man kann das durchaus auch einmal ansprechen, dass wir das eher von außen porträtiert haben«, sagt Ariana Dongus und fügt hinzu: »Wir haben den Leuten jetzt nicht die Kamera in die Hand gegeben.« In der Ausstellung sind ihre beiden Bilder in einer Art »Wahlkabine« installiert, in der die Besucher die Möglichkeiten haben, ihre eigenen Gedanken mitzuteilen. Der Titel »Neues Deutschland« bedeute für sie vor allem, dass inzwischen »Rassismus und reaktionäre Meinungen mit den großen Krisen der heutigen Zeit in der vielerorts halb mythisch, halb verzweifelt beschworenen ›Mitte der Gesellschaft‹ anzutreffen« seien. Gerne würde man in der anregenden Ausstellung noch mehr die nur scheinbar sonnenklare Gegenüberstellung von moralisch einwandfreiem Zentrum und fragwürdiger Peripherie problematisiert sehen.

»Neues Deutschland - Randgebiete« - bis zum 4. Dezember im Raum für drastische Maßnahmen, Oderstraße 34, Friedrichshain

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