Wer schützt die Demokratie?

In Thüringen denken Politiker, Forscher und Bürger über Alternativen zum Verfassungsschutz nach

  • Sebastian Haak
  • Lesedauer: 7 Min.

Ein Wort, bestehend aus vier Buchstaben bestimmt diesen Samstag: Hass.

»Der Psychologe würde sagen: Da muss eine körperliche Reaktion mit einher gehen«, sagt Marc Coester. »Irgendwas am Gegenüber ist unaushaltbar, irgendwas wird dem Gegenüber zugeschrieben, das nicht existieren darf«, sagt Marc Schwietring. »Da geht es um entfesselte Ressentiments«, sagt Matthias Quent.

Dann bricht die Diskussion so richtig los. Unter den drei Wissenschaftlern und unter all den anderen, die statt diesen Samstag im November mit Freunden oder der Familie zu verbringen, über Hass reden. Viele von ihnen sind Praktiker: Menschen, die zum Beispiel für die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus in Thüringen - kurz: Mobit - arbeiten. Irgendwann ist von »kaltem und heißem Hass« die Rede, von »Basis-Emotionen« und von »Feindschaft«. »Es ist nicht so einfach, den Hass zu beschreiben«, sagt Coester schließlich. »Und trotzdem wollen alle darüber reden.«

Muss man diese Ideenfetzen ernst nehmen? Einiges immerhin deutet darauf hin, dass hier eine Diskussion stattfindet, die eher in einen akademischen Elfenbeinturm passt als in das mehrstöckige Bürogebäude im Westen Jenas, in dem sie stattfindet: Die überwiegend jungen Männer und Frauen, die an dieser Debatte teilnehmen, sitzen auf schwarzen Lederstühlen, um vier weiße Tische herum, die in der Mitte des Raumes zusammengestellt sind. Darauf stehen ein Beamer, Tassen, Kaffeekannen und ein paar Plätzchen. Man duzt sich. Auch die, die sich bis eben noch nicht kannten.

Eigentlich wirkt die Runde wie ein universitäres Wochenendseminar. Wozu es durchaus passt, dass hier auch externe Wissenschaftler sitzen: Marc Schwietring gehört zur Universität Göttingen und forscht zu Rechtsextremismus und Antisemitismus. Marc Coester hat an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin eine Professur für Kriminologie. Und er ist es auch, der nicht lange nach der Beginn der Diskussion das tut, was viele Wissenschaftler so lieben: Die von ihnen selbst verwendeten Begriffe völlig in Frage zu stellen. »Wir sind uns einig, dass Hass dann doch nicht der richtige Begriff ist«, sagt er nach etwa eineinhalb Stunden.

Dennoch ist man gut damit beraten, das ernst zu nehmen, was an diesem Tag in diesem Raum geschieht, der tatsächlich viel zu eng ist für all die Menschen und all die Ideen und Konzepte, die dort diskutiert werden. Immerhin nämlich wird hier kaum weniger getan, als jenen Dogmenwechsel voranzutreiben, an dem die rot-rot-grüne Thüringer Koalition seit ihrer Regierungsübernahme im Dezember 2014 arbeitet. Ein Dogmenwechsel, der das Fundament dessen verändern soll und wohl auch wird, wie im Freistaat über alles gedacht wird, was die Demokratie bedroht. Und der verändern soll, wie mit solchen Bedrohungen umgegangen wird. Entsprechend geht es bei diesem Dogmenwechsel ebenso um das Kleine wie um das Große.

Das Kleine, das sind die alltäglichen Worte und Taten, die zeigen, dass in Thüringen die Abwertungen von sozial Schwachen und Fremden ständig und überall passieren: Abfällige Äußerungen an Kneipen- oder Abendbrottischen, in Straßenbahnen, Bussen, Schulen oder Werkhallen über Langzeitarbeitslose oder Männer und Frauen, die nur mit staatlicher Unterstützung leben können, obwohl sie arbeiten. Hochnäsiges Verhalten gegenüber Flüchtlingen und Ausländern, die sich an Supermarktkassen oder Ärzteschaltern nicht mit gutem Deutschen verständigen können.

Und all die körperlichen Angriffe auf Menschen nicht-deutscher Herkunft oder nicht-deutschen Aussehens, die es auch in Thüringen seit dem vorigen Jahr hundertfach gegeben hat, nachdem viele Flüchtlinge nach Deutschland gelangt sind. Das Kleine nämlich ist nichts, was nur einige wenige Menschen im Freistaat denken, sagen und tun. Seit Jahren zeigt der sogenannte Thüringen-Monitor, wie sehr abwertende Einstellungen auch bei vielen Thüringern vorhanden sind. Sogar bei solchen, die sich selbst als bürgerlich oder links sehen.

Das Große, das ist die rot-rot-grüne Abwendung von staatlichen Sicherheitsbehörden hin zur Zivilgesellschaft, um mit solchen Bedrohungen der Demokratie umzugehen; auch wenn niemand weiß, wo diese Zivilgesellschaft genau anfängt. Wo sie aufhört. Nur, dass die Sicherheitsbehörden und dabei vor allem der Verfassungsschutz nicht zu dieser Zivilgesellschaft gehört, darin ist man sich bei Rot-Rot-Grün ziemlich einig. Die Linken dachten das schon immer. Bei Sozialdemokraten und Grünen ist man davon überzeugt, seit der Inlandsnachrichtendienst, aber auch die Polizei sich beim Umgang mit der Terrorzelle NSU Fehler um Fehler geleistet haben. Wenn es darum geht, die demokratische Kultur im Land präventiv zu schützen, will das Bündnis deshalb viel mehr als bislang unter anderem auf Bürgerbündnisse gegen Rechtsextremismus, auf wissenschaftliche Expertise sowie politische und schulische Bildungsarbeit setzen.

Und genau wegen dieser Abwendung weg von den Sicherheitsbehörden hin zur Zivilgesellschaft ist es kein Zufall, dass die samstägliche Diskussionsrunde über Hass in den Räumen des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) stattfindet. In der Öffentlichkeit war über diese Einrichtung zuletzt vor allem unter der Bezeichnung Dokumentationsstelle für Menschenrechte gestritten worden. Immer gemeint ist damit jene zivilgesellschaftliche, von den Sicherheitsbehörden so weit entfernte und von der Amadeu-Antonio-Stiftung getragene Einrichtung, die im Jahr 2016 unter Rot-Rot-Grün geschaffen worden ist.

Etwa 207 000 Euro geben Linkspartei, SPD und Grüne dafür als Förderung in diesem Jahr aus. Quasi als Gegenpol, von dem man sich abwendet, steht im rot-rot-grünen Koalitionsvertrag folgender Satz: »Das Landesamt für Verfassungsschutz hat keinen Präventionsauftrag durch gesellschaftliche Information und Bildung.« Früher war das ganz anders.

Gestritten wurde indes über das IDZ, weil viele Kritiker des Instituts und seines Direktors - jener Matthias Quent, der Hass als »entfesselte Ressentiments« sieht - in dem Dogmenwechsel, in dem Umdenken, eine staatlich verordnete Umerziehung sehen. Und wie heftig, ja von allen Seiten ideologisch aufgeladen diese Debatte geführt wird, ließ sich mehr als in Jena erst vor wenigen Tagen im Thüringer Landtag erleben. Dort stritten die Kritiker dieses Umdenkens lange mit Vertretern von Rot-Rot-Grün. In Jena sind die Befürworter des Umdenkprozesses unter sich.

Anlass für die Landtagsdebatte war die geplante Einsetzung einer Enquete-Kommission des Parlaments zum Rassismus - ein weiterer, wichtiger Bestandteil dieses Umdenkens. Abgeordnete von Rot-Rot-Grün warben dabei für ihren neuen Blick auf all das, was die Demokratie gefährdet: das Abwerten, Diskriminieren und der Hass. Für die Einbindung der Zivilgesellschaft in solche Diskussionen. Für die Idee, in Zukunft viel stärker als bisher das sozialwissenschaftliche Konzept der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit zu nutzen, um diese Gefahren zu analysieren. Statt dies mit der Extremismus-Theorie zu tun. Letztere ist jenes gedankliche Gebilde, das auch die Arbeit deutscher Sicherheitsbehörden prägt.

CDU-Männer hielten dagegen: Ohne, dass bei diesen Analysen auch politischer und religiöser Extremismus thematisiert werde, mache die Arbeit der Enquete-Kommission nur wenig Sinn. Hin und her wurde dieses Argument gewendet, begleitet von polemischen Zwischenrufen und emotionalen Einwürfen: »Was ist das hier eigentlich für eine Debatte?« Oder: »Da lache ich ja sehr laut.« Oder, in Richtung der AfD, sogar: »Halt’ die Fresse!« Am Ende der Debatte wurde die Einberufung der Enquete-Kommission überraschend vertagt.

Die Diskussionen von Jena sind deshalb vielleicht sogar noch mehr als der Versuch, das Umdenken im Sinne von Rot-Rot-Grün zu befördern. Auch, wenn das wohl gar nicht geplant ist. Indem dort zum Beispiel über Hass als Konzept nachgedacht wird, suchen die Theoretiker und Praktiker nämlich gleichsam auch nach einem dritten Weg; nach einem jedenfalls in Thüringen ziemlich unverbrauchten, nicht vorbelasteten Ansatz, jenseits von Extremismus-Theorie und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, um all dem begegnen zu können, was die Demokratie hierzulande bedroht.

Schöner wird das Nachdenken über Diskriminierungen, Abwertungen und Gewalttaten dadurch nicht. Schon deshalb nicht, weil es nach Angaben von Coester ein besonders grausames Verbrechen in den USA im Jahr 1998 war, dass dazu geführt hat, dass zumindest dort inzwischen intensiv über Hass und Hass-Kriminalität gesprochen wird. Der 49-jährige James Byrd Jr. war damals in Texas von drei Männern zuerst zusammengeschlagen und dann mit einer Kette an einen Pickup-Truck gebunden worden. Anschließend fuhren die Täter mit dem Wagen los. Sie schleiften ihr Opfer etwa fünf Kilometer durch die Straßen. Seine Leiche warfen sie dann vor eine afroamerikanische Kirche. Mindestens zwei der drei Täter gehörten einer Bewegung an, die an die Überlegenheit Weißer gegenüber allen anderen Menschen glaubten.

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