nd-aktuell.de / 27.12.2016 / Kultur / Seite 16

Domino mit Matratzen

»Die Wehleider« von Christoph Marthaler am Deutschen Schauspielhaus Hamburg

Hans-Dieter Schütt

Was Auschwitz ermöglichte? Die Arbeitsteilung. Denn vor jedem abgezirkelten Lager, das den Tod verwaltete, stand das abgegrenzte Ressort, das den Lebensunterhalt sicherte - jeder Täter trug nur jenen kleinen Teil Verantwortung, der ihn von der Zuständigkeit für Zusammenhänge entlastete. »Ich wusste das nicht ... Damit hatte ich nichts zu tun ... Das wurde woanders entschieden.« Solche Stanzen durchziehen die Rechtfertigungsprosa aller Systeme aller Zeiten. Und ehemalige Europäer, die stammeln, beschwichtigen genauso. Denn wir befinden uns im Jahre 2024, es ist die Zeit nach dem Großen Europäischen Bürgerkrieg, und in einem Verfahren ähnlich dem Nürnberger Kriegsverbrecherprozess von 1946 treten sie nun vor, fünf Angeklagte mit elektronischer Handfessel. Beamte einer Ausländerbehörde, Angehörige der Küstenwache, parlamentarische Phraseologen. Schuldige am tausendfachen Tod von Flüchtlingen, Schuldige an der militärischen Tilgung Europas von der politischen Landkarte. Wie es Heiner Müller voraussagte: »Wenn sie mit Fleischermessern in euren Schlafzimmern steht, werdet ihr die Wahrheit wissen.«

Fünf Angeklagte. Der eine lächerlich weinend, der andere aufreizend ahnungslos (»Ich bin da rumgeschwommen im Mittelmeer, aber einen Flüchtling habe ich nicht gesehen«), der nächste hohl pathetisch in der Selbstermunterung, man müsse sich trotz der vielen Toten und der eigenen Versäumnisse nun endlich selber verzeihen - dies schlagen die Häupter und Handlanger sämtlicher Regimes besonders gern vor und schütteln entrüstet den Kopf über die Hartnäckigkeit der Opfer, nicht vergessen zu wollen. Jener Angeklagte, der das jetzt besonders salbungsvoll ins Mikrofon dröhnt, der wird sich gleich am eigenen Wort verschlucken und in einen Zungenstarrkrampf höchster, also lächerlichster Güte verfallen ...

Europa tot. Flüchtlingskrise? Nein, Krieg der Flüchtlinge. Und die Fliehenden werden wir selber sein. Oder noch schlimmer: deine Kinder und deine Kindeskinder. Verdammt, so schnell wird man gar nicht rennen können, wie die Ertrunkenen, die Abgeschobenen, die Wegbürokratisierten, die Marktunfähigen, die Ungültigen, die Perspektivlosen, die neuen Mauertoten uns verfolgen. Es ist eine der ungemütlichsten Szenen jüngster Theatergeschichte: wie da fünf Verderber Europas vor einem Gericht stehen. Weltkriegsverbrecher. Vielleicht sind wir’s ja jetzt schon. Wir töten dadurch, dass wir überfordert sind. Wir töten durch Gesetze, die Sicherheit geben sollen. Wir töten durch unser Bemühen um Ordnung. Und selbst unsere berechtigte Angst vor dem Fremden, unser Anspruch aufs Nationale, unser Recht auf Gewohntes - es vertreibt, es tötet.

Und also könnte es sein, dass irgendwann ein Tribunal stattfindet. Wegen der Völkerpein der Selektion. Noch heißt das: Obergrenzen. »Wir hatten zu große Werte, wir konnten nur an sie glauben, sie aber nicht praktizieren.« Sagt einer auf der Bühne. Und du sitzt im Zuschauerraum und spürst einen Hauch Angst - weil alles so sehr böse enden könnte, was sich jetzt schon elend streitet: die Linkspädagogik gegen den Rechtspopulismus, der Nationalsinn gegen den Multikult, die Staatssorge gegen das Menschenrecht. Mehrheit gegen Minderheit.

Angst? Und das bei Christoph Marthaler? Dem Menschenversteher. Dem Spießerseelsorger. Dem weisesten Nathannachfolger. Ja, aber weil er Menschenversteher ist, schuf er schon erschütternde Abende gegen Euthanasie und Dienstmädchensklaverei; weil er Spießerseelsorger ist, schuf er Aufführungen auch gegen jedwede Aufklärungsmilitanz. Und weil er ein Nathannachfolger ist, besitzt er einen einmaligen Sinn für die Singparabel. Denn: Reden mag Silber sein, bare Münze ist es nicht. Jeder weiß doch genau, was er sagen darf und was er verschweigen muss. In uns tobt fortwährende Unterdrückung. Daher, speziell bei Marthaler: Musik und Gesang. Im Singen ist das Lügen über die Liebe am schönsten. Das Singen, das mitunter zum Schreien ist.

»Die Wehleider« heißt das Stück am Deutschen Schauspielhaus Hamburg. Nach Motiven der »Sommergäste« von Maxim Gorki. Fünfzehn Damen und Herren in einer schäbigen Turnhalle (Bühne und Kostüme: Anna Viebrock). Wo einst Flüchtlinge hausten, werden jetzt besorgte Bürger therapiert. In dieser »privaten Spezialklinik für Angst, Depression und psychosomatische Störungen«, wie Chefin Irm Hermann von der Empore des Etablissements herab mitteilt - ein hämisch-herrisches, tückisch kicherndes Aufsehergemüt. Das ist aber noch lange vorm erwähnten Tribunal; erst einmal wird es sehr, sehr lustig. Wie da jeder eine Matratze vorm Wanst hat und diese Patientenreihe Menschendomino spielt - Abschied vom aufrechten Gang. Wie da eine jammert, dass sie in nahrungs- und naturverderbter Welt nur noch Astronautenkost zu sich nehmen kann. Wie alle panisch ein letztes Telefonat plappern, weil Irm Hermann die Handys einsammelt - und durch die zerscherbten Fenster wirft. Wie einer knurrt: »Scheiß Kürbiskerne!« Wie eine klagt, dass sie nicht mit Fremden teilen kann, denn »wie soll man sich einen Physiotherapeuten teilen?« Joseph Ostendorf, dieser schwergewichtig-klobige Leichtigkeitsartist, trägt eine giftgelbe Trump-Frisur und meint: »Wir waren schöner, als die Welt noch gestimmt hat«. Er wünscht sich »Gesetze gegen falsche Ansichten«, beschwört die offene Gesellschaft, will aber »persönlich nichts damit zu tun haben«.

Drei Pfleger (Altea Garrido, Joaquin Abella, Haizam Fathy, Antonio Jimenez Navarro): gestähltes Arabien, geschmeidiges Afrika. Helfer, Rächer, Wächter. Mal in Sportkleidung, mal im Military Look, später unternehmerisch elegant. Sie zwingen die Wehleider an Turnringe und übers Seitpferd, durchkneten sie, und während die Meute einen Mallorca-Chor bildet (»Der absolute Hauptgewinn / ist meine geile Nachbarin«), werden die Pfleger bodenkriechend zu Akrobaten der Flucht- und Schleichwege, und du denkst Schlamm und Stacheldraht. Plötzlich singen diese drei Ausländer: »Wenn ich ein Vöglein wär«. Als hätten sie das deutsche Volkslied seinen vermeintlichen Besitzern gestohlen. Sie genießen das. Lächelnde Sanftheit - wie ein Sieg.

Salbungsvoll, immer herzig, immer herzlos, immer eine fast liebenswerte Schwächlichkeit in diesen Jammer-Figuren, immer aber eine kollektive Grausamkeit, die alles Schwächliche so gnadenlos macht. Wo der Weg des Mörderischen gegangen wird, darf es sehr nach Demut und Wehmut klingen - Puccini unter Mundschutz, Brahms-Chöre auf der Turnmatte, Beethovens 9. als schönste Heuchelhymne. Alles ist Seelenbibbern, miefig, piefig, alles ist dämonisch just durch die geradezu brachiale Bittgeste, mit der diese Menschen auf ihre Unbelangbarkeit bestehen.

Ein Ineinanderschieben von Gesprächsfetzen, Begegnungsmomenten, Kollisionssekunden. Eine grandiose Truppe, deren Namen man alle nennen möchte. Der sonor betuliche Jean-Pierre Cornu, der herrlich steife Graham Valentine, die heiter komische Matrone Bettina Stucky, der huschende Clemens Sienknecht. Ihr müsst, ihr wollt euch ändern?, scheint Marthaler uns zu fragen. Dann ändert euch doch, Schwätzer! Geht ins raue Wirkliche, helft, tut Gutes, schmeißt hier im Warmen alles hin - aber ertragt bitte, dass wir anderen lachen. Weil ihr an der nächsten Ecke stehen bleibt! Diese entsetzliche Normalität der gehobenen Nichtigkeiten - vor der ja jeder Mensch erschrecken würde, träte er nur ein einziges Mal ehrlich neben sich selber. Als Teil dieser berstenden Welt.

Ein witzig wühlender, im Komischen so zorniger Abend. Am Ende, nach den erwähnten Tribunal-Reden, stapeln sich alle Spieler zu einem Haufen nur spärlich bekleideten Fleisches. Die Masse Mensch - zusammengeschoben oder sich zusammenfindend? Die Hauptfrage bei Marthaler: Wer verliert zuerst das Bewusstsein über den wahren Zustand seiner Existenz - und steht auf?

Nächste Vorstellungen: 28. Dezember, 2. März