Gebietsreform rückwärts

Neu-Ulm und der »Nuxit« - verlässt in Bayern erstmals eine Stadt ihren eigenen Landkreis?

  • Ulf Vogler, Neu-Ulm
  • Lesedauer: 4 Min.

Bis 1972 war die schwäbische Stadt Neu-Ulm kreisfrei, dann verlor die Kommune die Selbstständigkeit und wurde in den gleichnamigen Landkreis eingegliedert. Jetzt, knapp 45 Jahre später, holt sich Neu-Ulm den damals verlorenen Status vielleicht zurück. Als erste kreisangehörige Stadt Bayerns seit der Gebietsreform könnte Neu-Ulm aus dem eigenen Landkreis austreten. Die Kommune prüft derzeit die Vor- und Nachteile eines solchen Schritts. In einigen Monaten soll entschieden werden.

Seit der Eingliederung in den Landkreis ist die Einwohnerzahl von Neu-Ulm stark gestiegen, um fast die Hälfte. Heute hat die bayerische Stadt - bei steigender Tendenz - etwa 60 000 Einwohner und bildet zusammen mit der angrenzenden und doppelt so großen Schwesterstadt Ulm in Baden-Württemberg ein bedeutendes wirtschaftliches Zentrum.

Neu-Ulm liegt bei den größten Städten Bayerns an 15. Stelle. Alle Kommunen im Freistaat, die noch größer sind, sind kreisfrei. Und hinter Neu-Ulm rangieren mehrere Städte wie Coburg, Amberg oder Memmingen, die weit weniger als 50 000 Einwohner haben, aber trotzdem kreisfrei sind.

Alle Details zu einem möglichen Austritt würden nun von der Verwaltung zusammengetragen, dann werde das Ergebnis dem Stadtrat vorgelegt, sagt Stadtsprecherin Sandra Lützel. »Das wird eine ganze Zeit in Anspruch nehmen.« Bis Mitte des Jahres 2017 solle die Prüfung aber abgeschlossen sein.

In Anlehnung an das britische EU-Referendum »Brexit« und das Neu-Ulmer Autokennzeichen »NU« macht in der Stadt nun das Schlagwort »Nuxit« die Runde. Für Bayern wäre es ein Novum, wenn die Stadt tatsächlich den eigenen Landkreis Neu-Ulm verlässt. »Uns ist kein solcher Fall seit der Gebietsreform bekannt«, erklärt Stefan Frey vom Innenministerium in München.

Die Gebietsreform in den 1970er Jahren hatte zum Ziel, die Zahl der Landkreise und kreisfreien Städte zu reduzieren, um die Verwaltung effektiver zu machen. 23 zuvor kreisfreie Städte, darunter Neu-Ulm, wurden damals in einen Kreis eingegliedert. Der Landkreis Neu-Ulm gehört gerade wegen der einwohnerstarken Kreisstadt zu den bevölkerungsreichen Kreisen Bayerns. Doch mit der größten Stadt würde rund ein Drittel der Bevölkerung verlieren.

Landrat Thorsten Freudenberger (CSU) sieht die Überlegungen in der Kreisstadt dennoch »sehr nüchtern«, wie er sagt. Der Landkreis wäre auch ohne die Stadt Neu-Ulm eine für bayerische Verhältnisse normal große kommunale Einheit. Allerdings macht Freudenberger klar, dass er einen Austritt Neu-Ulms bedauern würde: »Man hat gemeinsam eine Erfolgsgeschichte von 44 Jahren.« Rein formal erfüllt Neu-Ulm die Voraussetzungen dafür, wieder kreisfrei zu werden. Nach der Bayerischen Gemeindeordnung muss eine Stadt dafür mindestens 50 000 Einwohner haben. Dann könnte die Staatsregierung mit Zustimmung des Landtags und bei Anhörung des Kreistages die Gemeinde für kreisfrei erklären.

Bislang war dieser Schritt kein so großes Thema in der Stadt. Doch auch durch die Krise der Krankenhäuser des Kreises wurden die Überlegungen befeuert. Zuletzt war mitgeteilt worden, dass die Kliniken ein Defizit von 13 Millionen Euro verbuchen werden. Dies könne bedeuten, dass die von der Stadt zu zahlende Kreisumlage um mehrere Millionen Euro steigen werde, kritisierte die Neu-Ulmer CSU-Stadtratsfraktion und fordert, dass die Umlage »kein Selbstbedienungsladen für den Landkreis« sein dürfe.

Schon zuvor hatten die Christsozialen zur Kreisfreiheit erklärt, dass man sich mit dem »wichtigen Thema und seinen möglichen Konsequenzen intensiv auseinander« setzen sollte. »Es bietet sich die gute Chance, Verwaltungsstrukturen schlanker, effizienter, effektiver und insgesamt bürgernäher zu organisieren«, meint Fraktionschef Johannes Stingl. Auch die SPD als zweitgrößte Fraktion hat klar gemacht, dass sie über einen möglichen Kreisaustritt diskutieren möchte. Stadtsprecherin Lützel betont allerdings, dass noch keine Vorentscheidung gefallen sei: »Man steht dem Ganzen offen gegenüber.«

In der Diskussion um die Kreisumlage, die in der Stadt 2017 voraussichtlich von rund 28 auf etwa 35 Millionen Euro steigen wird, kontert Landrat Freudenberger, dass die Kreisstadt in den vergangenen Jahren vom Kreis mehr zurückerhalten als Umlage gezahlt habe. Die Stadt profitiere auch von den etablierten Verwaltungsstrukturen und müsse sich sonst künftig selbst um Schulen und Sozialkosten kümmern. dpa/nd

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