nd-aktuell.de / 14.01.2017 / Kultur / Seite 32

O Fortuna!

Fast 15 Jahre nach den Aufführungen der »Carmina Burana« wollen frühere Mitglieder eines Ballettensembles das Stück in der Berliner Akademie der Künste erneut präsentieren. Gemeinsam mit jungen Tänzerinnen.

Uwe Sattler

Sabrina Mautsch ist ärgerlich. Der Zusammenschnitt der Musikstücke stimmt nicht. Wenn eine neue Tanzsequenz beginnen soll, stoppt die Wiedergabe. Dabei hat das Schneiden von Carl Orffs »Carmina Burana« einen ganzen Tag Arbeit im Tonstudio gekostet. Auch die Grippewelle hat vor dem Ensemble nicht halt gemacht. Zwei der Mädchen sitzen mit dicken Schals in der Ecke des Saals und schauen beim »Feintuning« der Einstudierung zu, zwei weitere mussten gleich ganz im Bett bleiben. Dabei wäre es so wichtig gewesen, dass gerade heute, bei einer der letzten Durchlaufproben vor den großen Auftritten, die Truppe komplett ist. Anfang Februar soll das Ballettstück in der Berliner Akademie der Künste aufgeführt werden - und an die legendären Inszenierungen von 2002 und 2003 im tränenpalast anknüpfen.

Mautsch ist Profi genug, um schnell zu improvisieren. Die Musikanlage wird per Hand gesteuert. Was ohnehin besser ist. Denn die knapp zwanzig Tänzerinnen und Tänzer - aus ihrer früheren Ballettcompany, einer Tanzschule in Berlin-Steglitz, aus dem heutigen Studio sowie ProfitänzerInnen unter anderem vom Staatsballett - müssen wieder und wieder einige Positionen und Schrittfolgen bei den einzelnen Musikstücken wiederholen. O Fortuna: »Lasst die Köpfe locker! Die Hände gehen erst später auf«, übertönt Sabrina das kraftvolle Intro, springt von ihrem Barhocker vor der großen Spiegelwand und führt die Bewegung vor, die sie bei der Gruppe sehen will. Floret silva: »Oberkörper schneller fallen lassen, rein ins Grand-plié!« Reigen: »Selbst wenn ich euch nachts wecke, muss das aus dem Effeff kommen!« Zwischen den Stücken erfüllt Keuchen den Probensaal, das Tempo und die Wiederholungen fordern ihren Tribut. In Taberna: »Arabesque! Die Technik muss wie Butter fließen!« Veni, veni, venias: »Aaron, du bist eine Winzigkeit langsamer als die anderen, daran musst du arbeiten!«

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Aaron gehört zu den »alten Hasen« in der Balletttruppe. Der heute 28-Jährige hat jahrelang im Studio von Sabrina Mautsch getanzt. »Eine Freundin, die damals in der Carmina dabei war und und jetzt wieder, hat mich zu Sabrina mitgenommen. ›Dich bekommen wir wieder fit‹, hat sie mich begrüßt.« Was dann doch nicht so leicht war; »drei Tage lang konnte ich mich nach der ersten Probe kaum bewegen«. Klar war dem Angestellten in einem Energieunternehmen auch, dass es in den kommenden Wochen wenig Familienleben geben würde. Aaron ist Vater zweier kleiner Kinder, das dritte ist unterwegs. »Mein Frau meinte, wenn ich mir das selbst noch oder wieder zutraue, steht sie hinter mir. Aber natürlich sind wir jetzt auf alle Omas angewiesen.«

Verständnis bei ihren Partnerinnen und Partnern haben alle der erwachsenen TänzerInnen gefunden, zumeist sogar Ermutigung, die Herausforderung anzunehmen. So war es auch bei Beatrice, der Bekannten, die Aaron von der geplanten Carmina-Aufführung berichtete. Die ebenfalls 28 Jahre alte Qualitätsmanagerin promoviert gerade, lebt in Cottbus und kommt zweimal in der Woche zum Training ins Studio nach Friedrichshagen - knapp zwei Stunden Fahrt, pro Strecke. »Als ich von dem Plan hörte, habe ich gedacht: Das ist deine Chance, die vielen anstrengenden, aber doch sehr schönen Jahre Ballett noch einmal aufleben zu lassen.« Zugesagt hat sie allerdings nicht sofort, sich zunächst Bedenkzeit erbeten. »Ich weiß, was an einer solchen Aufführung an Zeit und Training hängt.« Wie die anderen »Alten« hat Beatrice in ihrer Schulzeit drei- bis viermal in der Woche trainiert. Einige der Mädchen waren nach den vielen Jahren Ballett so gut, dass sie selbst unterrichten konnten.

Mit dabei ist auch Vreni, 28. Sie hatte lockeren Kontakt zu Sabrina gehalten - und erhielt den »Call of Duty« im vergangenen Sommer während eines Urlaubs: »Kribbelt es dir nicht in den Beinen, wenn du von dem Auftritt hörst?« Es kribbelte. Dabei hatte die »Ballettkarriere« von Vreni, die heute in einem Hotel arbeitet, 2006 nach über 14 Jahren schmerzhaft geendet: Bei einer Aufführung misslang eine Hebung, Monate mit lädiertem Sprunggelenk waren die Folge. Das ist alles vergessen: »Ich habe sofort zugesagt.«

Juliane, die im Februar 32 wird, hat mit dem Tanzen nie aufgehört, unterrichtet noch heute Kindergruppen. »Zuerst habe ich Nein gesagt. Ich dachte, das schaffst du einfach zeitlich nicht, zumal ich auch noch studiere.« Zwei andere Mädchen aus Sabrinas alter Gruppe haben inzwischen wegen der Belastung aufgegeben. Körperlich hatte Juliane dagegen keine Bedenken: »Durch das Kinderballett bin ich noch ganz gut in Form, ich muss ja viel vorführen, dadurch habe ich die verschiedenen Positionen und Grundschritte noch ganz gut drauf.« Auch Beatrice und Vreni haben sich mit Boxen, Zumba und Piloxing fit gehalten. »Aber ein Tanzstück ist konditionell deutlich anstrengender als anderthalb Stunden Abendsport«, sagt Vreni.

Die Choreografien haben auch nach fast fünfzehn Jahren noch gesessen. »Schwierig wurde es nur bei Stücken, in denen Sabrina Abläufe geändert hat«, meint Juliane. Für ihre jüngeren Mittänzerinnen ist es vielleicht sogar leichter, sich eine komplette Choreografie neu anzueignen. »Wir ›Alten‹ und Jungen sind inzwischen zu einem Team zusammengewachsen.« Nur eines haben die »großen Mädchen« festgestellt: »Unsere Disziplin war damals eisern. Dass bei Proben gequatscht wird, hätte Sabrina früher niemals zugelassen.«

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Sabrina Mautsch hat auch in Zeiten, als Tanzstudios aus dem Boden schossen und jeder und jedem die Illusion gaben, Ballerina oder Tänzer zu sein, an der klassischen Schule festgehalten. Wer in die Tanzcompany Sabrina M. aufgenommen wurde, hatte eine harte Schule hinter sich. Nicht wenige der Mädchen hatten schon im Kindergartenalter begonnen - und hörten erst nach Ende ihrer Schulzeit auf. »Ohne die Grundlagen des klassischen Balletts kommt auch der moderne Tanz nicht aus«, ist Mautsch überzeugt. »Darum sieht das, was heute mitunter geboten wird, manchmal so verkorkst aus.«

Nachdem sie sich die Ballettgrundlagen im damaligen Hermann-Duncker-Ensemble der DDR angeeignet hatte, studierte Sabrina Mautsch an der Fachschule für Tanz in Leipzig. Danach folgten unter anderem Engagements am Opernhaus der Messestadt, wo sie Solorollen in der »Tosca« übernahm. 1993 folgte die Gründung des Tanzstudios Sabrina M. in Berlin-Hohenschönhausen, in dem bis zu 18 Klassen unterrichtet wurden. »Die Besten habe ich herausgepickt und die Tanzcompany gebildet«, erzählt sie. Das Laienensemble wagte den Schritt in Wettbewerbe, die eigentlich Profitänzern vorbehalten waren - und schaffte es auf die Spitzenplätze. Die große Leidenschaft von Sabrina Mautsch gehört jedoch der »Carmina Burana«.

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»Ich habe schon einige getanzte Aufführungen der ›Carmina‹ gesehen«, erzählt Mautsch. »Einige sehr klassisch, einige hatten mit dem Stück gar nichts mehr zu tun.« Teile der aus Mönchsgesängen zusammengesetzten Kantate hatte sie schon in den 1990er Jahren aufgeführt. Irgendwann entstand die Idee, daraus ein eigeständiges Ballettstück zu machen. »Ich finde die Musik so ergreifend, die muss man einfach mit Ballett unterlegen.« 2002 und 2003 wurden die Inszenierungen im Berliner tränenpalast aufgeführt - stets vor ausverkauftem Haus. Dann kam die Geburt ihres Sohnes und damit das Etwas-Kürzertreten, die Eröffnung eines zweiten Ballettstudios in Friedrichshagen und später die Aufgabe des Standortes Hohenschönhausen, schließlich ging die Tanzcompany auseinander. Die Mädchen und Jungen begannen Ausbildung oder Studium, viele zogen in andere Städte, es fanden sich kaum noch Eleven, die den hohen Ansprüchen eines Ballettensembles genügten.

Die Idee, die »Carmina« neu zu inszenieren, ließ Sabrina Mautsch jedoch nicht los. Über Jahre reiften Libretto und Choreografie. Zwar wurden viele Elemente aus der alten Carmina-Aufführung übernommen, die Teile sollten jedoch harmonischer verbunden und die Zuschauer an einem roten Faden durch das Stück geführt werden. Schauspieler sollten Gedichte zwischen den Sequenzen vortragen, Rilke war angedacht, auch Hesse. »Dann dachte ich: Warum nehmen wir nicht die mittelalterlichen Texte, die Orff vertont hat? Einiges musste etwas vom Staub befreit werden, aber die Originale haben wir weitgehend erhalten und von Profis einsprechen lassen.« Fehlte nur noch das Ensemble.

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»Für so eine gewaltige Musik braucht man viele gute TänzerInnen, die müssen die Bühne im wahrsten Sinne des Wortes ausfüllen. Das müssen gut ausgebildete Leute sein. Eine ›Carmina‹ kann man nicht nach zwei, drei Jahren Hobbytanz aufführen. Da habe ich an meine frühere Company gedacht.« Gehofft habe sie, dass »ihre Mädels« nicht zu »hausbacken« geworden sind, sondern noch immer aktiv und begeisterungsfähig, für das Tanzen brennen. »Im vergangenen Sommer haben wir uns zum ersten Mal nach den vielen Jahren getroffen und ich habe von meinem Vorhaben erzählt. Da hatten einige dann doch Tränen in den Augen.« Inzwischen sind die »Alten« wieder topfit. »Schon nach dem dritten Training gingen die Beine wieder über 90 Grad nach oben«, lobt Mautsch.

Ob und wie es nach den Aufführungen im Februar weitergehen wird, ist noch offen. Der Kammerchor Marzahn will im kommenden Jahr, zu seinem 40-jährigen Bühnenjubiläum, »Carmina Burana« aufführen, gemeinsam mit Orchester und der Ballettruppe. Das wäre das i-Tüpfelchen, ist Sabrina überzeugt. Ob die »großen« Mädchen und Jungen dann wieder dabei sind? Interesse haben alle, aber ob es Job und Familie zulassen, steht auf einem anderen Blatt. Ihre Whatsapp-Gruppe soll auf jeden Fall weiter bestehen. Sie heißt »Spagat«.

Aufführungen am 4. und 5. Februar 2017, 19 bzw. 16 Uhr, in der Akademie der Künste Berlin, Hanseatenweg 10, Karten zum Preis von 29 Euro an allen Reservix Theaterkassen und an der Abendkasse.