Merkel saugt alles auf

Politikwissenschaftler Hendrik Sander sieht die Energiewende steckengeblieben

  • Guido Speckmann
  • Lesedauer: 3 Min.

Angela Merkels Ankündigung im November, ein viertes Mal als Kanzlerkandidatin der Union anzutreten, kam nicht sehr überraschend. Aber die Frage drängt sich auf, wie sie sich so lange hat an der Regierung halten können. Was ist das Spezifische ihrer Herrschaftstechnik? Der Politikwissenschaftler Hendrik Sander geht dieser Frage für ein spezifisches Politikfeld nach: Merkels Energiewende nach der Katastrophe im japanischen Fukushima im März 2011. Und er weitet diese Frage aus: Befindet sich Deutschland unter Merkel auf einen Weg in Richtung eines grünen Kapitalismus? Sander beschränkt seine Untersuchung zeitlich auf die 17. Legislaturperiode - auf die Jahre 2009 bis 2013 -, und inhaltlich auf die Stromproduktion. Sein theoretisches Konzept ist ein »strategisch-relationaler Marxismus«, der seine Inspiration von Antonio Gramsci und Nicos Poulantzas bezieht.

Dem Verfasser zufolge ist die Regierungsform des sogenannten Merkelismus dadurch gekennzeichnet, dass es der Kanzlerin gelinge, »artikulationsfähige Forderungen aus der Gesellschaft in einer Weise zu inte- grieren, durch die die Auseinandersetzungen entpolitisiert und ihre ursprünglichen TrägerInnen passiviert werden.«

Was ist darunter zu verstehen? Nach Fukushima sah die Regierung Merkel voraus, dass die Stimmung in Deutschland gegen die Nutzung der Kernenergie umschlagen werde. Mit der Verkündung des partiellen Atomausstiegs griff die Kanzlerin einen Aspekt der Anti-Atom-Bewegung auf - und setzte weitere Schritte in Richtung einer ökologischen Energiepolitik um. Doch, so lautet Sanders Fazit, sie forcierte dies nicht genug und berücksichtigte weiterhin die langfristigen Profitinteressen der fossilen Industrie. Überdies habe die Merkel-Regierung mit den Reformen des Erneuerbare-Energien-Gesetzes auf geänderte Kräfteverhältnisse reagiert und eine Rolle rückwärts in der Energiewende vollzogen. Dazu passt, dass die Kohlewirtschaft nicht substanziell eingeschränkt wurde.

Somit sei allenfalls in Keimform erkennbar, dass Deutschland sich auf einem Weg zum grünen Kapitalismus befinde. Vorerst, so Sander, gelte: »Die vorherrschenden neoliberalen und imperialen Naturverhältnisse wurden daher auch im Energiebereich nicht grundlegend verändert, sondern die hegemonialen Produktions- und Konsummuster weitgehend reproduziert.« Der Autor vermutet, dass sich daran auch in Zukunft in Deutschland nicht viel ändern werde.

Gespannt beginnt man die Lektüre von Sanders abschließenden Ausführungen zu den Strategien eines grünen Sozialismus. Doch diese hinterlassen einen etwas unbefriedigenden Eindruck. Formulierungen wie »Die politische Perspektive wäre, in progressiven Kämpfen das überschüssige Moment einer antikapitalistischen Perspektive zu wecken, um so eine radikale sozial-ökologische Transformation konkret ins Visier zu nehmen« werfen mehr Anschlussfragen auf, die der Autor unter anderem mit dem konkreten Beispiel des Berliner Energiekampfes nur bedingt beantworten kann. Das allerdings schmälert den Erkenntnisgewinn, den man aus Sanders Studie ziehen kann, nur geringfügig.

Hendrik Sander: Auf dem Weg zum grünen Kapitalismus? Die Energiewende nach Fukushima, Berlin 2016, Bertz + Fischer Verlag, 322 Seiten, 19,90 Euro.

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