Unterm Schutt

Blanche Kommerell über Inge Müller

  • Erik Baron
  • Lesedauer: 4 Min.

Über fünfzig Jahre ist sie jetzt tot. So lange ist es jetzt her, dass die Trümmer der Vergangenheit und die Trümmer der Gegenwart eine unselige Allianz bildeten und Inge Müller endgültig unter sich begruben. Sie ist an Einsamkeit erstickt.

Doch unterm Schutt reiften ihre zurückgelassenen Gedichte zu ungeahnter Schönheit. Tränen, an denen Blütenblätter gewachsen sind. Gedichte voller Traurigkeit und Wehmut, Gedichte zwischen Liebe und Zorn. »Zum Lachen brauch ich keinen Grund / Zum Weinen keinen Schmerz«. Und immer mitschwingend: »Die Wahrheit leise und unerträglich«.

Je öfter ich ihre Gedichte lese, desto gegenwärtiger werden sie mir. Sie dehnen sich in meiner Seele aus und werden ein Stück von mir selbst. Jetzt ist wieder eine kleine Auswahl verlegt worden. Blanche Kommerell hat sie in eine essayistische Annäherung an Inge Müller und ein Interview mit Heiner Müller eingebettet, das sie 1989 mit ihm geführt hat. Eine kleine, feine Auswahl mit Zeichnungen von Reinhard Pods.

Blanche Kommerrell, Jahrgang 1950, hatte Inge Müller nie persönlich kennengelernt, auch wenn sie als Kind bei den Proben zu Heiner Müllers »Lohndrücker« mit ihr gemeinsam im Zuschauerraum saß. Ihre Mutter Ruth Kommerrell spielte damals die Frau des Aktivisten Balke, und das Theater wurde zum zweiten Zuhause von Blanche. 1973 spielte Blanche Kommerrell selbst in Müllers »Weiberkomödie« mit. Nein, sie hat Inge Müller nicht wirklich gekannt, sie kennt ihre Gedichte und hat in dem einleitenden biographischen Essay versucht, über die Gedichte die Leben und die Tode von Inge Müller zu erzählen. Denn, so Blanche Kommerrell, »sie hatte mehrere Leben, mehrere Gesichter, mehrere Tode.«

Gleichwohl weigerte sich Inge Müller, wie sie in einem Gedicht schrieb, Masken zu tragen. Feinfühlig begleitet Kommerell die Dichterin durch ihr tragisches Leben - als Flakhelferin Ingeborg Meyer, die ihre Eltern tot aus den Trümmern barg, nachdem sie selbst drei Tage verschüttet war, als junge Frau, die sich in mehrere Ehen flüchtete, bevor sie mit dem vier Jahre jüngeren Rebellen Heiner Müller eine Dichterehe einging, die letztlich auch zum Scheitern verurteilt war. Und als engagierte Zeitgenossin, die allmählich die Hoffnung auf eine bessere Zukunft begraben hat.

Und Heiner Müller, im Interview über seine Frau Inge? War er nicht der Maskenträger schlechthin? Galt er nicht als der stets dominante Part dieser Beziehung, der seine Frau zur Zuarbeiterin degradierte? Blanche Kommerrell gesteht zu Beginn ihres 1989 geführten Gesprächs, dass Heiner Müller zu ihren Feinden gehörte. Aber wenn sie hinter das Geheimnis von Inge Müller steigen wollte, musste sie auch mit ihm reden. Es scheint ein angenehmes Gespräch in einem Devisenhotel in Berlin (Ost) gewesen zu sein. Allerdings wissen wir nicht, inwieweit Heiner Müller an diesem Tag wieder eine Maske getragen hat. Er kam sehr offen, aber auch sehr fragil herüber. Der Selbstmord von Inge Müller wurde zu seinem Trauma, ein Leben lang. Es scheint fast, als wäre er erleichtert gewesen, sich mit jemandem über ihr Schicksal zu unterhalten. Die Spannung in ihrer Beziehung ist beim Lesen des Gesprächs (das mehr ein Gesprächsprotokoll ist) geradezu zu spüren.

»Acht Jahre sei er aus Angst um ihr Leben nicht herausgekommen. Sie habe sich in ihr Zimmer zurückgezogen, während er in seinem Zimmer gearbeitet hat. Er habe die Inge Akkordeon spielen hören. Oft stundenlang, während er schrieb. Die plötzliche Stille habe ihn zu ihr gerufen. Manchmal habe er dann einen Selbstmordversuch unterbrochen.« Einmal jedoch, am 1. Juni 1966, ist er zu spät gekommen. »Vielleicht war ich einfach zu schwach für diese Frau«, zitiert Blanche Kommerell am Ende des Gesprächs Heiner Müller. - Masken sehen anders aus. Hier schimmert ein Mensch durch, ein sehr verletzlicher.

Das letzte Wort hat Blanche Kommerell: »Ich fühle mich wie ein Schauspieler, der abgeschminkt sich von seinem ebenfalls abgeschminkten Partner verabschiedet: ›Da haben wir doch eine gute Vorstellung gegeben.‹«

Blanche Kommerell: Inge Müller - Ich will alles von der Welt. Bübül-Verlag Berlin. 100 S., br., 14 €.

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