Gott sei Dank!

»Die Bibel« - am Landestheater Rudolstadt bringt Alejandro Quintana das Buch der Bücher auf die Bühne

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Weltanschauungen schotten ab gegen hereindrängende Leere. Sind wie vier Wände, ein Boden, eine Decke. Ein Zimmer also, ein Haus. Manche nennen das Kirche, andere Partei. Ohne Täuschung von solchem Daheim fielen wir durch. Wohin wir da fielen, dafür wäre jeder Name noch zu schön. Aber jedes Denksystem kommt an den Punkt, da selbst seine Fiktionen wie Betrug wirken. Die Leere ist stärker. Die Leere ist die Fülle. Denn: Was alles in ein Leben passt! - das Herz ist wirklich eine Grube. Mördergrube, Goldgrube, Fundgrube. In dir leben alle Möglichkeiten des liebenden, also auch hassenden, des zerbrechlichen, also auch zerbrechenden, des geschundenen, also auch schindenden, des verratenen, also auch verratenden Menschen. Immer ist Wahrheit das, was das Gewissen überfordert, nicht beruhigt.

So etwa kann Einstimmung sein, wenn man im Theater sitzt und nichts Geringeres zu erwarten hat als: »Die Bibel«. Das ist noch größer als, sagen wir, Shakespeares Werke an einem Abend. Größer geht es nicht. Und das just an einem eher kleinen Spielort: am Landestheater Rudolstadt. Das Stück des Schweden Niklas Rådström, die deutsche Uraufführung, in der Übersetzung von Intendant Steffen Mensching. Das Epos aus der, über die, für die - Ewigkeit. Und dann kommen aber nur Techniker auf die Bühne, sie probieren. »Es werde Licht!« Es wird Licht, der Wechsel mit der Finsternis funktioniert ebenfalls, der Inspizient atmet auf: »Gott sei Dank.« Plötzlich aber ein Handwerker, der stört, er trägt Material durch den Raum, Holzkreuze. Verflucht, wohin damit? Jesses Maria!

So ist das Theater! Überspannt sich an der Schöpfung, greift nach allen Horizonten, domestiziert sich den Wahnsinn der Welt, bis er in einen geordneten Spielplan passt - bleibt aber eine knarzende Bretterbude aus Lug und Trug. Regisseur Alejandro Quintana beginnt also betont illusionslos, dann freilich, über vier Stunden: Hinein in die beeindruckende Überforderung! Von Adam und Eva bis ... bis ... bis. Kain, der den anderen nicht erträgt. Jona, auf der Flucht vor der zu großen Aufgabe, den Bürgern Ninives die schreckliche Wahrheit zu sagen. Moses, der das blöde Volk verachtet, weil es den Segen gemeinsamer Ordnungen nicht begreift.

Das hat, besonders vor der Pause, einen packenden Spannungsbogen. Ist Bilderbogen. Bleib im Bild, rät Dichter Peter Handke. Tritt nicht davor, tritt ein. Als gehörtest du dazu. Du gehörst doch dazu. Zur viel erzählten, aber unerhört bleibenden Geschichte. So hat es sich zugetragen, so wird es immer sein: Verheißung und Verfluchung, Ethik und Eifer, Geschenk und Golgatha. Punkt. Du! Spiegel der ganzen Welt - und deren Überlieferungen in Mythos und Kunst. Quintana, der Chilene, ist Expressionist. Sein Geist ist Bewegung. Seine Regie spielt präzise mit Farben, forciert mit stampfendem Tanzschritt, lässt leidenschaftliche Körperschwünge in der Starre ausglimmen. Die Arche Noahs: ein ausschwingendes, aufgekratztes Tiermaskenspiel.

Die Inszenierung zerscheppert Gebotstafeln, sie feuert mit Maschinenpistolen, ihr genügt ein roter Handschuh für die Blutbefleckung, sie lässt Hiob elektrofoltern, sie sperrt Menschen in erstickende Folien, sie schiebt die Einkaufswagen der Obdachlosigkeit, sie lässt ein kleines Radio als Dornbusch entflammen, sie entfaltet das Abendmahlgemälde mit Gerangel um den Platz an der Wonne, sie wirft Feuerwogen auf die Seitenwände, sie nimmt Säuglingsbündel auf den Arm - die Bündel entrollen sich als Fotoplakate getöteter Jünglinge. Die Bühne bleibt leer, groß, schwarz, irgendwie bretterroh und ungeschönt. Nur hinten öffnet sich immer wieder die Wand für giftende oder glühende Himmelsfarbflächen, ein Menschendrängelplatz für Tanz und Taumel. Und Terror.

Wie entsteht Gemeinschaftsraum, wie Frieden? In einer Welt, darin der Gerechte in Lumpen verdämmert, der Lump in Purpur erstrahlt. Eine Welt, in der sich die Erfahrungen der ersten Christen wiederholen - die Rückkehr des Heilands findet nicht statt, das große Versprechen wird nicht zur Tat, auch die nächste Koalition stottert nur herum, Geist und Fleisch driften verlässlich auseinander. Anne Kies und Johannes Geißer sind Frau und Mann, beginnen nackt als Eva und Adam, werden zu Flüchtenden und Getriebenen durch alle Szenen hindurch. Zwei unbehaust sich Findende, zwei im Suchen Beheimate. Sie mit Staunen und Schrecken, er mit Augen und Gesten aus tapferer Skepsis und trotziger Gelassenheit. Zwei im Zorn, dem die Güte nicht verloren geht. Zwei in Freundlichkeit, die nicht winselt.

Ebenfalls auf lange Zeit des Abends ein Bindeglied der Menschenkämpfe, sich Gott zu schaffen: die drei Engel des Herrn, mit Brustpanzer und Flügeln, die den kriegerischen Rüstungszwang fortsetzen. Bodyguards der Vorsehung. Animatoren der Wunderindustrie. Manuela Stüßer als angespannte Vermittlerin zwischen dem gütebesiegelten Engel des Markus Seidensticker und dem hager-ledernen Luzifer des Johannes Arpe. Eher Inquisitor als Gesandter Gottes.

Was das ist, Gott? Es ist ein Talent, im Vertrauen nicht nachzulassen. Womit wir Gott ausgestattet haben, das spricht für uns, auch wenn dabei bislang meistens mehr Herrschaft herausgekommen ist als Freiheit. Tino Kühn als Jesus steht blond, ohne jede Heldenpose auf einem kleinen Podest, denkt laut und bescheiden inständig die Bergpredigt. Blinde und Lahme an den gemeinsamen Tisch!, Ausgestoßene in die Mitte geholt!, Schmutzigen die Hand gereicht! Die diesen Jesus umhockenden Zuhörer stehen einer nach dem anderen auf, gehen kopfschüttelnd hinaus.

Ergreifende Geschichten erklären uns nicht die Welt, deshalb überleben sie. Ergreifende Geschichten hat das Alte Testament in stärkerem Maße als das Neue - was in Rudolstadt den Szenenwirbel, die Geschehenswucht mehr und mehr ins Monologische rückt. Sei’s drum. Das Ganze zieht den Blick an, hat Ausdruckskraft, ist ein bewundernswerter Abend. Neunzehn Spieler in nahezu achtzig Rollen. Menschheit in all ihrer Bestechlichkeit, Müdigkeit, Geiferlust, Eitelkeit, Verleugnungslust, Rechtgläubigkeit, Gewaltlüsternheit, Erziehungsgier. Die preschende Kraft der Jungen, die ernste Faltigkeit der Alten - schöne, stimmige Mischungen. Ute Schmidt als Lots Weib: ein Bericht vom Massaker, dessen trauriger und doch fester Ton das Grauen zu allen Schädelstätten aller Zeiten hin verlängert. Der Moses von Matthias Winde: alle Färbungen von Idealismus und dessen Nähe zum Fanatismus. In Horst Damms Abraham die ganze zitternde Verwirrung des Menschen in der Schraubzwinge von Treue und Gehorsam.

Der Schluss: ein Kinderschrei. Neugeburt. Alles auf Anfang, der immer mitten des Niedergangs geschieht. Erwartung statt Erfahrung: tief Luft holen. So beginnt naturgemäß jeder Kraft-Akt. Tief Lust holen. Der Mensch: vielleicht die Erklärung, warum ein Gott am Ende der Tage regelmäßig der eigenen Welt widerspricht. Mensch: wenn es erneut Licht wird, vielleicht das erste Wort, das er wieder spricht.

Nächste Vorstellungen: 2., 24., 25. Februar

#ndbleibt – Aktiv werden und Aktionspaket bestellen
Egal ob Kneipen, Cafés, Festivals oder andere Versammlungsorte – wir wollen sichtbarer werden und alle erreichen, denen unabhängiger Journalismus mit Haltung wichtig ist. Wir haben ein Aktionspaket mit Stickern, Flyern, Plakaten und Buttons zusammengestellt, mit dem du losziehen kannst um selbst für deine Zeitung aktiv zu werden und sie zu unterstützen.
Zum Aktionspaket

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal