Es gibt mehr als Internet in Litauen

Was neben Panzern zur Ausrüstung der Bundeswehr gehören sollte

  • René Heilig, Rukla
  • Lesedauer: 4 Min.

Es war passend zum Anlass kalt in Rukla. Eiskalt. Doch sonnig. Die Vorabkontingente verschiedenster NATO-Truppen, die vermutlich für viele Jahre in der alten Kaserne aus Sowjetzeiten stationiert werden, waren am Dienstagvormittag angetreten. Und dann gab es Reden. Drei Minuten hatte sich die litauische Präsidenten Dalia Grybauskaité ausbedungen. Die deutsche Verteidigungsministerin brauchte acht. Denn ganz so einfach, wie es die Gastgeber sehen, ist es nicht mit der Stationierung deutscher Truppen in Litauen.

Ursula von der Leyen (CDU) betonte, das gastgebende Land habe immer allein gegen mächtige Nachbarn, die keine Achtung vor dem Völkerrecht zeigten, gestanden. Nach nur zwanzig Jahren Selbstbestimmung habe die Freiheit Polens, Estlands, Lettlands und auch Litauens im vergangenen Jahrhundert mit einem Federstrich dem Hitler-Stalin-Pakt geendet. »Was 1940 folgte, war der Albtraum der sowjetischen Besatzung: Massenverhaftungen, unzählige Hinrichtungen und die Deportation von Zehntausenden von Menschen. Doch es sollte noch schlimmer kommen: Die Invasion durch die Wehrmacht brachte «viele Jahre des Elends und der Zerstörung nach Litauen. Das Land fiel der Nazi-Vernichtungspolitik zum Opfer.» In den Plänen der Nazis habe es «keinen Raum für ein litauisches Volk gegeben».

Der Ostwind war eisig, er fegte gnadenlos über den Appellplatz. Fahnen knatterten, die angetretenen Soldaten krochen noch tiefer in ihre Uniformen. Doch nicht deshalb verkürzte die Ministerin die Geschichte. Etwas unzulässig, wie man meinen kann. Was bedauerlich ist, denn Litauens Präsidentin Grybauskaitė hatte ihre drei Minuten Sprechzeit eingehalten und dabei natürlich nur betont, wie bedroht ihr Land gerade sei. Was da auf dem Kasernenareal aufgeboten sei, sende eine «klare und wichtige Botschaft an alle: Die NATO ist stark und stehe zusammen.

Wofür und gegen wen? Später vor der Presse sprach sie - zurückhaltender als man es von ihr bislang schon gehört hatte - von einer »aggressiven Militarisierung« in der Region um Kaliningrad . Die »Aggression« in der Ukraine zeige, dass Frieden und Sicherheit nicht selbstverständlich seien. Man müsse bereit sein, sie zu verteidigen.

Gerade wenn es um das geht, was zu verteidigen ist, wenn es also um die viel beschworenen gemeinsamen Werte geht, kommt man nicht nur mit der Gegenwart aus. Doch auch von der Leyen sprach nicht von der unheiligen Allianz zwischen deutschen Mordkommandos und litauischen Verbänden.

Noch vor Eintreffen der Wehrmacht gab es zahlreiche Übergriffe von litauischen Nationalisten gegen Juden. Litauische Kollaborateure konnten ihren Hass austoben, Rache nehmen. Juden und Kommunisten - ein Unterschied wurde nicht gemacht. In Kaunas, wo das Flugzeug der deutschen Delegation gelandet war, wurde ein Ghetto errichtet. Die Wachmannschaft bestand aus litauischen und deutschen Polizisten. Gemeinsam trieb man die Gefangenen zur Zwangsarbeit.

Schon in den ersten Wochen ermordete man in Kaunas 3000 Juden. Im Herbst weitere 9000. Männer, Frauen und Kinder. Bei der Befreiung durch die Rote Armee im August 1944 lebten nur noch wenige der Sklaven. Noch schlimmer wüteten deutsche und litauische »Herrenmenschen« in der heutigen Hauptstadt Vilnius. Ein südlich gelegener Wald wurde zur Hinrichtungsstätte für mehr als 70 000 Menschen. Sie wurden von Deutschen und Litauern erschossen.

Im Gegensatz zu Estland und Lettland gab es zwar in Litauen keine freiwillige SS-Division. Dafür jedoch Polizeibataillone, die Jagd auf Juden und Kommunisten machten. Tausende Freiwillige meldeten sich für den Dienst in verschiedenen SS-Waffen-Grenadier-Divisionen. Zahlreiche Litauer erfüllten ihre »Pflicht« auch in Auschwitz. Nicht ohne Grund empört sich das Simon-Wiesenthal-Zentrum, dass auch die Regierung in Vilnius nichts tue, um Nazikollaborateure zu benennen. Auch in der litauischen Hauptstadt und in Kaunas gab es in den vergangenen Jahren Nazi-Traditionsaufmärsche. Man gedenkt der »Helden« der einstigen deutsch-litauischen Waffenbrüderschaft an nationalen Feiertagen zur Unabhängigkeit.

Das alles lässt sich nicht in wenigen Minuten Ansprache erklären. Zumal dann nicht, wenn es doch eigentlich darum geht, dass Litauen sich nach dem »Bloody Sunday« in Vilnius fast genau vor 26 Jahren von den Russen befreien konnte und heute eines »der führenden Länder ist, wenn es um Internetzugang geht«.

Von der Leyen versprach: »Nie wieder wird die Freiheit und die Unabhängigkeit Litauens für kriminelle Machtpolitik geopfert werden. Weder die territoriale noch die politische Souveränität Litauens sind verhandelbar!« Die Menschen in Litauen könnten »ohne Angst leben und ihre Zukunft so gestalten, wie sie wollen«.

Knapp 500 deutsche Soldaten werden jeweils für ein halbes Jahr als Kern eines NATO-Kampfbataillons in Litauen stationiert sein. In einem Tagesbefehl hatte die Ministerin erklärt, dass man einen hohen Maßstab an das Auftreten der Bundeswehrsoldaten anlege. Man wolle »von den Menschen in unserem Gastland akzeptiert werden und zu ihnen ein gutes Verhältnis« aufbauen. Dazu haben die Soldaten eine sogenannte Taschenkarte erhalten. Acht Seiten umfasst sie. Land, Leute, Sitten.

Diese Informationen werden nicht ausreichen. Nun ist vor allem die sogenannte Innere Führung der Bundeswehr gefragt, wenn es darum geht, den jungen Soldaten ein umfassendes und realistisches Bild vom Herkommen der besonderen deutsch-litauischen Beziehungen zu vermitteln.

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