Kunst trifft Kolportage

Der Berlinale-Wettbewerb eröffnete mit »Django« von Etienne Comar

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.

Am Anfang sehen wir Django Reinhardt, wie er dabei ist, fast sein eigenes Konzert zu verpassen. Ein offenbar gewohntes Ritual: Er steht an der Seine, angelt und trinkt, seine Familie sucht ihn, während das bereits versammelte Publikum ungeduldig zu werden beginnt. So ist das mit den Künstlern: Sie möchten gern erwartet werden!

Zu den Fischen hat Django Reinhardt übrigens eine besondere Beziehung, wie sie so langsam im Wasser dahingleiten, mitunter fast zu stehen scheinen. Doch wenn man nach ihnen, den scheinbar so trägen Geschöpfen, greift, vollziehen sie eine blitzartige Bewegung und sind weg. Das wäre ein gutes Sinnbild für jemand wie Django Reinhardt gewesen: der Entkommene!

Die so idyllische Angelszene, der Django Reinhardt entrissen - und so gerade noch rechtzeitig auf die Bühne vor sein immer noch wartendes Publikum gestellt wird (er schwankt durchaus, denn er trinkt zu viel, kann kaum noch deutlich sprechen), hat zwei Pointen. Die erste ist künstlerischer Natur, denn kaum berührt Django Reinhardt nun die Gitarrensaiten, beginnt er in traumsicherem Tempo über diese hin zu rasen. Das ist, wie das Meiste von Wert im Leben, die Kompensation eines Mangels. Denn als er ein junger Mann war, brannte der Wohnwagen ab, in dem er schlief, er wurde schwer verletzt. Ein Bein sollte amputiert werden und einige Finger konnte er nie mehr bewegen. In Jahren harten Trainings entwickelte er eine besondere Technik, wie er dennoch wieder Gitarre spielen konnte - und zwar doppelt, nein dreimal so schnell wie vorher. Das ist die künstlerische Pointe.

Die zweite Pointe ist politischer Natur: Im Saal versammeln sich nicht nur seine Pariser Fans, sondern auch nicht wenige deutsche Besatzungsoffiziere, die seine Musik lieben. Wir sind 1943 im von deutschen Truppen besetzten Paris. Einige der deutschen Besatzungsoffiziere schützen Django Reinhardt, vielleicht weil sie selber heimlich den Jazz lieben, den er macht. Andere wollen ihn für ihre Zwecke benutzen oder verachten ihn als »Zigeuner«. Doch seltsamerweise ist nun eine Tournee nach Deutschland geplant. Er soll zur Motivation vor Soldaten auf Heimaturlaub auftreten. Tatsächlich kann Django Reinhardt ein Publikum in Trance hineinspielen, das hat er von seiner Mutter, die immer dabei ist und zudem einen kühlen Geschäftssinn besitzt: »Besser spielen, kostet extra«, lautet ihre übliche Auskunft.

Sind zwei Pointen besser als eine, die funktioniert? Wohl kaum, so denkt man bei dem sich nun zwei Stunden lang ausbreitenden Bilderbogen, in dem der Künstler Django Reinhardt seltsamerweise immer mehr verblasst, statt Kontur zu gewinnen. Verläuft sich Regisseur Etienne Comar in lauter Impressionen, die weniger zur filmischen Intensität hin drängen, als vom guten Willen dirigiert werden?

Kunst und Leben, das scheint ein schier unerschöpflicher Stoff zu sein, aus dem man immer neue Kunst und neues Leben zu schöpfen hofft. Mittlerweile ist es fast ein Jahrzehnt her, dass die Berlinale mit einem Film über Edith Piaf eröffnete, der mir damals sehr schwach und durchschnittlich vorkam. Als ich ihn kürzlich im Nachtprogramm des Fernsehens wiedersah, erschien er mir jedoch durchaus ansehenswert. Das zu interpretieren, mag nun jeder den Kulturkritiker in sich wachküssen. Fakt ist - die Berlinale, wie jedes Festival mit Dutzenden, nein Hunderten in kurzer Zeit zusammengepresster Filmangebote - macht den einzelnen Film eher klein, umso mehr, wenn die Erwartungen an Sujet und Regisseur groß sind.

So kann ich mir gut vorstellen, dass es bei der Diskussion um den Eröffnungsfilm zugeht wie beim Konklave zur Papstwahl. Ich bitte nicht!, so hört man förmlich die stillen Gebete der Kandidaten. Was ich sagen will: Die Ehre, der Eröffnungsfilm der Berlinale zu sein, ist eine durchaus zwiespältige. Nun also kommt mit »Django« (ein Regiedebüt!) ein Künstlerfilm zum Zuge, der zugleich ein Paris-Film ist. Und weil der Jazzgitarrist Django Reinhardt zu den Manouches gehört, den französischsprachigen Sinti und die Geschichte im von den Nazis besetzten Paris spielt, kommt also noch etwas hinzu: die Geschichte des ethnisch Verfolgten. Leider wirkt dieser Teil der Geschichte ebenso halbherzig erzählt wie die Annäherung an den Künstler. Das böse Wort von der Kolportage drängt sich dabei auf.

Man denke an dieser Stelle an Woody Allen, der 1999 klug genug war, in »Sweet and Lowdown« die Geschichte des genialen Gitarristen Django Reinhardt ganz und gar indirekt, wie hinter einer Maske verborgen, zu erzählen, indem er uns den durchaus begabten (aber eben nicht wie Reinhardt genialen) Musiker Emmet Ray vorstellt. Das ist ein robuster Typ, der trinkt und Frauen verführt und zur Entspannung nachts auf einem Müllplatz Ratten erschießt. Über seine Musik erfahren wir nur so viel, dass er sich ständig fragt, warum er so gut ist und dafür so schlecht bezahlt wird. Respekt hat dieser Typ nur vor einem: seinem Gott Django Reinhardt. Als er einmal (irrtümlicherweise) annimmt, dieser säße bei einem Konzert vor ihm als Zuhörer im Saal, fällt er vor Aufregung einfach um. So äußert sich der Respekt der Profis im harten Musikgeschäft vor dem allergrößten unter ihnen: Sie zittern vor Ehrfurcht, wenn nur sein Name erwähnt wird.

Was also macht Etienne Comar aus dieser Konstellation aus Neurose, Musik, Geschäft und Politik? Er zittert nicht vor Ehrfurcht, im Gegenteil er kultiviert eine Art Mitleid - und das verstimmt. Django Reinhardt interessiert sich kein bisschen für Politik, ist, wie jeder echte Künstler, durch und durch egoman. Schreiben kann er nicht, lesen in den Gesichtern dafür umso besser. »Wer ist denn dieser Clown?«, fragt er, als er in einer Wochenschau Hitler sieht, der mit heiserer Stimme Parolen brüllt. Reda Kateb als Django Reinhardt ist keine Fehlbesetzung - in einer anderen Regie, die sich mehr dafür interessiert hätte, was sich bei Django Reinhardt auf bis heute so einmalige Weise musikalisch Bahn bricht, hätte er dies gewiss auch beweisen können.

Immer äußerlicher wird das, was wir sehen. Django, der nicht auf Tournee ins »Reich« gehen will (davor bewahrt ihn ein sicherer Instinkt), setzt sich mit Hilfe einer holländischen Freundin an die Schweizer Grenze ab, das ist verbürgt, auch, dass er dort abgewiesen wurde. Seine Biografie verzeichnet dann die Rückkehr nach Paris, wo er zurückgezogen, aber nicht versteckt, unbehelligt bis zur Befreiung von Paris lebte.

Comar spinnt diese versuchte, aber misslungene Flucht in die Schweiz nun im Stil eines zweitklassigen Fernsehfilms aus. Da kommt die Résistance ins Spiel, die einen Anschlag plant, aber dazu muss Django die in einer Villa versammelte Generalität mit einem Konzert ablenken. In der Nacht wird ein verwundeter englischer Flieger, von dem wir nichts weiter als das erfahren, über den See gerudert. So kommt immer mehr Redundanz ins Spiel, auch Zigeunerfolklore, die Reinhardt, dem genialen Künstler, der einmalige Klangwelten erschuf, nicht gerecht wird. Die deutschen Offiziere wirken wie aus einer Comedy-Serie, marschieren offenbar nur als Lachnummer in der Szenerie herum. Wer aber war jener Dr. Jazz, von dem am Anfang in Paris die Rede war?

Weniger ausmalend-beliebige Erfindung, mehr dokumentarische Präzision - und »Django« wäre nicht so langweilig-konventionell geworden, wie es dieser Berlinale-Eröffnungsfilm ist.

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