»Und ich bin das Schnitzel«

»Die Brüder Brasch« in den DT-Kammerspielen - eine Collage von Marion Brasch

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Auf der Leinwand immer wieder: die Gesichter dieser drei Brüder. Die großen Augen vor allem. Blicke der Erwartung, der Lust, der Gier auch. Augen, so aufgeschlossen wie aufgerissen. Augen, sagt man landläufig, so dunkel wie die von Rehen. Rehe sind scheu. Wenn schon der Vergleich, dann Rehe, die selber ebenfalls auf Jagd gehen.

»Die Brüder Brasch« heißt die Collage von Marion Brasch in den Kammerspielen des Deutschen Theaters. Gefügte, foto- und filmszenenbegleitete Momente aus ihrem Buch »Ab jetzt ist Ruhe«, diesem berührenden »Roman meiner fabelhaften Familie«. Fabelhaft, also: einerseits ein Gleichnis, eine Unglaublichkeit, eine Erfindung des wundengierigen Lebens, etwas, das über sich hinausweist - zum anderen aber auch eine sehr konkrete wunderbare, tolle Familie; also: das Ganze ein stolzer, der Autorin, bei aller Leidensfülle, ein doch liebenswerter Stoff.

Zwei marmorplattenrunde Caféhaus-Tische. An jedem Tisch zwei Lesende. Daniel Hoevels und Ole Lagerpusch, Simone von Zglinicki und - Marion Brasch. Sie sprang an diesem Abend für die erkrankte Katrin Wichmann ein. Zwei Frauen aus Brasch-Texten, die miteinander ins Gespräch kommen; der Mensch, selber »ohne Geschichte und hat keine gemacht«, gleichsam als Stichwortgeber, als Kommentator, als Volksmund in der sich nun mählich aufblätternden DDR-Familiengeschichte.

Dreimal Brasch. Bruder Thomas ist Schrifteller, Bruder Klaus Schauspieler, Bruder Peter ebenfalls Schrifteller. Der Schauspieler protestiert sich nach vier Wochen NVA-Grundwehrdienst (»ich habe keine Lust mehr«) zu den Bausoldaten. Der Schriftsteller Peter studiert sich bei den Germanisten der Exmatrikulation entgegen. Von Bruder Thomas wissen wir am meisten. Er ist der Älteste, der Berühmte.

1968, als Thomas gegen den Prag-Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in Prag protestierte: Verurteilung wegen »staatsfeindlicher Hetze«. Spielszenen zeigen die Zettel hinter »Trabant«-Scheibenwischern: »Stalin lebt«, »Hände weg vom roten Prag!«. Thomas wollte kein Flüsterliterat sein, er sah die Gefahr voraus, sich in dissidentischer Koketterie und im Selbstmitleid zu gefallen. So akzeptierte er von einem Tag auf den anderen die Ausreise.

Filmausschnitte zeigen Klaus, den Schauspieler - etwa in »Solo Sunny« als Bandleader. Er spielte diesen Macho kantig, kerlig, komisch ins Miese und zugleich Mitleidwerte hinein. Peter Brasch sehen wir von einem Romanprojekt erzählen, das Zimmer wie eine Höhle; wie er so kindlich lächelt, glaubt man sofort dem väterlichen Einspruch gegen den Ausreisewunsch: »Peter kommt drüben unter die Räder.« Texte seiner Kinderbücher hören wir: die Ratte, die Menschenfreund sein will; der Wolf im »Rotkäppchen«, der ebenfalls die Schnauze voll hat vom Bösesein. Und Thomas Brasch erklärt im Fernsehen einem Westreporter mit abweisendem Witz, welche Rolle dem Dissidenten im bundesdeutschen Medienbetrieb zugedacht ist: Der Journalist sei der Kellner, das Publikum der Gast - »und ich bin das Schnitzel.«

Ein weiterer Filmausschnitt zeigt Thomas Brasch 1982 in München neben dem grinsenden Franz Josef Strauß, der ihm den Bayerischen Filmpreis überreicht. Brasch am Rednerpult: »Ich danke den Verhältnissen für ihre Widersprüche (...) Denn die Widersprüche sind die Hoffnung.« Und dann bedankt er sich - Bayern im Theatersaal bellt böse! - bei der Filmhochschule der DDR für seine Ausbildung. Sagt das zweimal, gegen das lauter werdende Bellen im Zuschauerraum.

Die Eltern waren 1947 aus dem britischen Exil zurückgekehrt, und die politische Karriere des Vaters ging hoch bis zum stellvertretenden Kulturminister. Alle drei Brüder kamen ins Internat. Christa Wolf hat das so beschrieben: »Eine herrschende Klasse, an Erhaltung und Zementierung des von ihr geführten Staates arbeitend, entledigt sich ihrer Kinder und überantwortet deren Erziehung der von ihr bestellten Bürokratie.« Der elfjährige Thomas ist auf der Kadettenschule der NVA; alle Versuche, diese Anstalt mit ihrem »täglichen Drill« zu verlassen, prallen daheim ab. Später werden wir ein Gedicht hören: »Als meine Mutter meine Hand nahm im Auto/ am Tag bevor ich ins Internat abfuhr und/ ich wusste im gleichen Moment, dass ich/ in einen Weg einbog, der mich wegtrieb und/ wollte zurück aber da ging es nicht mehr.«

Ideologie, hat Heiner Müller geschrieben, sei der Ersatz für Wirbelsäule. Die Brasch-Kinder hatten Wirbelsäule. Unbenutzbare, Unkäufliche, Unbegabte für Einsicht, Ordnung, Schweigepflicht. Die nicht bloß die Strichfassung ihrer Sehnsüchte lebten. Das bedeutet stets auch, mitten in Arbeit und durch Arbeit: Absturz ins Erblinden der Kräfte. So entstehen Radikalisten des Empfindens, die nicht bedingungslos um Öffentlichkeit bitten, sie können warten, bis die auf ihr Niveau kommt. Auch wenn sie darüber sterben.

Die Brasch-Brüder, allen Rauschfluchtmöglichkeiten näher als der Disziplin, sterben früh. Marion Brasch erinnert sich an Thomas’ Worte, als Peter 1989 starb: »Dieser Idiot, er hat mir doch sonst immer alles nachgemacht, warum macht er mir jetzt das Sterben vor?« Klaus war da schon Jahre tot. Einmal, bei einer Operation, bohrt der Arzt aus Versehen ein Loch in die Herzwand von Thomas. Drei Monate, heißt es, bleiben ihm. Er schafft noch drei Jahre. 2001 ist auch der älteste Bruder Brasch gestorben.

Immer wieder hellt sich der tiefe Bühnenhintergrund auf: die Bolschewistische Kulturkapelle Schwarz-Rot. Kampflieder: ins Schräge geschmetterte Harmonien, in die Dissonanz getriebenes Pathos. Stimmige Musik für einen klugen, sanften, traurigen, fragender Abend über deutsche Schicksale. Der Vater will sich sogar, nach einem Streit mit einem Politbüro-Mitglied, das Leben nehmen. Das zwanzigste Jahrhundert: Höhenflug und Fluch. Osten, Westen: Da eingesperrt, dort ausgesperrt. Vielleicht sind immer, in allen Weltenkonstellation, die Kerkermeister drinnen, die Häftlinge aber draußen - jene ehrbaren Bösen und Besessenen und Betrunkenen, die ihre glitzernden und scharfen Steine in den Wohlstandstümpel und das Seichtgewässer der Gemäßigten werfen.

Marion Braschs Abend (eingerichtet mit Lena Brasch) widerspricht dem Titel ihres Buches: Denn Ruhe ist nicht, wird nicht! Diese Familie (zu deren Geschichte ihre eigene unbedingt auch gehört) erzählt, was an kein Ende kommt: Deutschland. Am Schluss noch einmal die Fotos der Drei: wieder diese Augen. Eine Provokation an Intensität. Eine Offenheit, die sich um nichts betrügen lassen will, was auf dieser Welt wahrnehmbar ist. Dieser Blick geht durch und durch, er geht durch die Zeiten - als gehe der jeweilige Mensch, dem diese Augen gehören, durch einen Spiegel wie durch eine bittere Wahrheit: Die Freiheit, die sich jemand nimmt, ist immer auch Freiheit, in die man abgedrängt wird.

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