nd-aktuell.de / 17.02.2017 / Kultur / Seite 15

Der Ausnahmezustand

»El Bar« & »The Dinner« im Wettbewerb

Gunnar Decker

Wer in Madrid an einem belebten Platz in die Bar geht, der will meistens nur kurz Pause machen, einen Kaffee trinken, bevor er zum nächsten Termin hetzt. Abgesehen von denen, die ohnehin niemals Termine haben, die sind auch da. Also sitzt man und schweigt, schaut aus dem Fenster, telefoniert oder zankt mit der Wirtin. Eine gewöhnliche Espresso-Bar an einem gewöhnlichen Vormittag. Auch Elena (Blanca Suárez), jung, schön und eine Spur zu gestylt für diese Tageszeit, tritt ein. Ihr Handy-Akku ist leer, vielleicht hat man hier das passende Aufladekabel?

Der Alltag der Großstadt dröhnt herein. Aber unmerklich wird es still. Einer der Gäste zahlt und geht hinaus: ein Schuss, und der Mann fällt zu Boden, blutet stark am Kopf. Ein anderer Gast will helfen und wird ebenfalls am Kopf getroffen. In Sekunden ist das vorbei, was bis eben noch Normalität war. Auch die Straße ist plötzlich menschenleer. Zwei Tote liegen in eine Blutlache. War das ein Terroranschlag oder ein Amokläufer?

Aber nicht nur draußen vor der Tür wird gestorben, auch drinnen. Einer der Gäste bekommt Krämpfe, schwillt merkwürdig an und ist auch schon tot. Neben ihm liegen eine Spritze und sein Handy. Auf diesem sind Fotos zu sehen, von ihm im Schutzanzug irgendwo in Afrika. Ebola? Es wird nur einmal ausgesprochen, aber klar ist spätestens jetzt, als draußen vor der Tür maskierte Uniformierte mit Autoreifen ein stark qualmendes Feuer legen, dass hier etwas fingiert werden soll, was von nicht weniger als der bevorstehenden eigenen Auslöschung ablenkt. Sind sie hier, am falschen Ort zur falschen Zeit, alle todgeweiht?

Regisseur Àlex de la Iglesia unternimmt ein filmisches Experiment: Was passiert mit Menschen, die bis eben nichts miteinander zu tun hatten, wenn plötzlich die zivilen Normen des Zusammenlebens nicht mehr gelten, weder draußen noch drinnen? Er baut rasante Assoziationsketten, die sich manchmal fast überschlagen, aber dann doch einen eigenen Rhythmus finden. Die Eigendynamik der Aktion schafft eine eigene Form.

Der Kampf aller gegen alle wird gnadenlos geführt. Da ist der Penner von der Straße, der hier immer einen Gratiskaffee bekommt: Zählt er hier schon wieder nicht, während die anderen immer hektischer nach Fluchtmöglichkeiten aus der Todesfalle suchen? Er wird es ihnen zeigen. Hautnahe Konkurrenten beim Kampf ums Überleben sind sie nun alle. Und dann ist Elena allein übrig, kriecht aus der Kanalisation, schwankt durch die wundersamerweise wieder bevölkerten Straßen - eine Fremde ganz plötzlich.

Das Restaurant ist ein an sich harmloser Ort, an dem man isst und trinkt. Auch in »The Dinner« von Oren Moverman. Selbst dann, wenn Paul überhaupt keine Lust hat, der drängenden Einladung seines Politiker-Bruders (sehr subtil undurchsichtig, von fürsorglich bis berechnend: Richard Gere) in dieses Nobelrestaurant zu folgen, wo man für wenig Essen sagenhaft viel Geld aus dem Fenster wirft.

Was sich an »The Dinner« einprägt, ist zweierlei: die zelebrierte Abfolge kommentarbedürftiger Feinschmeckereien, die hier serviert werden und die man wohl nur isst, wenn man eigentlich keinen Hunger hat, zum einen, und die eskalierenden Streitereien der beiden Ehepaare bei Tisch zum anderen. Es dauert eine Weile, eine Stunde etwa, bis man begreift, worüber eigentlich gestritten wird. Ihre Söhne haben nach einer langen Partynacht einen Obdachlosen angezündet. Ein Unfall, das war von unseren Jungs, die gute Jungs sind, doch gar nicht gewollt! Also Mund halten, die Polizei interessiert sich nicht lange für tote Obdachlose.

Der Politikerbruder scheint empört: Das war ein Verbrechen, für das jeder büßen muss, der es begeht, auch wenn es die eigene Söhne sind. Wer weiß, was sie sonst als nächstes tun? Man ahnt es schon, er spielt diese Rolle eine Weile, lässt sich schließlich überstimmen. Gegen sein Gewissen, das demonstriert er, wird er schweigen. So lässt er sich auch zum Gouverneur wählen. Seinem Bruder sagt er dann im Aufbrechen: Es ist eben alles Politik, auch die Familie. Eine Parabel auf ein Amerika, wo alles in Frage gestellt scheint und keine Werte mehr unangefochten Gültigkeit besitzen. Wo alles erlaubt ist, was den eigenen Interessen nutzt.

Zwei gelungene Filme, die das Gruppendynamische nicht bloß zum Thema erklären, sondern als stilistisches Mittel nutzen. Manche unerfreuliche Wahrheiten sind dabei nun mal bloß Bar- oder Dinner-Themen und sollten danach endgültig im Schweigen begraben werden. Klappt bloß nicht immer.