»Wir haben eine große Verantwortung«

Katja Kipping (LINKE) hat auf ihrer Reise nach Belgrad viele verzweifelte Flüchtlinge getroffen

  • Fabian Lambeck
  • Lesedauer: 4 Min.

Im Januar sorgten Medienberichte aus Belgrad für Aufsehen. Tausende Geflüchtete saßen in der serbischen Hauptstadt fest, viele von ihnen hausten bei bitterer Kälte in Ruinen. Sie waren gerade in in der serbischen Hauptstadt und konnten sich ein Bild von der Lage machen. Hat sich die Situation mittlerweile entspannt?
Auch wenn die Temperaturen jetzt deutlich milder sind, ist die Situation ernst. Ich habe die Baracken besucht, in denen undokumentierte Geflüchtete untergekommen sind. Dort sind die hygienischen Bedingungen verheerend. Besser geht es den Menschen, die in den offiziellen Flüchtlingseinrichtungen leben. Zumindest was die Unterbringung angeht. Doch die Perspektive ist auch für die Menschen dort düster. Aus Gesprächen mit dem UN-Flüchtlingshilfswerk, dem deutschen Botschafter, serbischen Regierungsvertretern und NGOs ergibt sich ein ziemlich eindeutiger Befund: Ungarn hat die Balkanroute faktisch geschlossen. Es kommen nur noch werktags zweimal fünf Menschen rein.

Zweimal fünf Menschen? Wer wird berücksichtigt? Die ersten Geflüchteten, die morgens an der Grenze erscheinen?
Nein, es werden Nummern vergeben. Das führt dazu, dass inzwischen etwa 8000 Menschen in Serbien warten und darauf hoffen, dass ihre Nummern irgendwann gezogen werden.

Zur Person

Die Vorsitzende der LINKEN, Katja Kipping, ist zurück aus der serbischen Hauptstadt Belgrad, wo sie sich ein Bild von der Lage der dort gestrandeten Flüchtlinge machen konnte. Im Gespräch mit nd-Redakteur Fabian Lambeck schildert sie ihre Eindrücke.

Besonders schockiert zeigte sich Kipping über das unmenschliche Losverfahren zur Einreise und die Schilderungen von Geflüchteten, die durch ungarische Grenzer misshandelt worden waren.

Da hat sich eine Art Menschenlotterie an der EU-Außengrenze etabliert?
Ich habe sehr lange nachfragen müssen, um zu erfahren, wie das Vergabesystem funktioniert. Alle Geflüchteten erhalten eine Nummer. Die wird dann irgendwann gezogen - oder auch nicht. Immerhin warten da 8000 Menschen und täglich kommen neue hinzu. Gleichzeitig lassen die Ungarn pro Woche nur 50 Geflüchtete einreisen.

An dieser makaberen Lotterie dürfen nur registrierte Flüchtlinge teilnehmen?
Ja. Die Unregistrierten haben kein Vertrauen in das Nummernsystem und versuchen so den Zaun zu überwinden.

Wieso wollen sich die Menschen nicht registrieren lassen? Offenbar erwachsen ihnen viele Nachteile aus ihrer Weigerung.
Weil sie glauben, in dem Nummernsystem keine Chance zu haben. Was auch stimmt. Von ungarischer Seite werden sie auch immer wieder zurückgeschickt. Und sie haben Angst, dass es aus den offiziellen Camps illegale Rückabschiebungen Richtung Bulgarien gibt. Außerdem sind die Einrichtungen in der Nähe Belgrads voll. Die Perspektivlosigkeit treibt die Menschen in die Hände der Schlepper.

Wie groß ist die Zahl der Unregistrierten in Serbien?
Die Hilfsorganisation Hot Food Idomeni, die da Großartiges leistet, gibt am Tag bis zu 1000 Essen an unregistrierte Geflüchtete aus. Viele von ihnen stammen aus Afghanistan. Ich habe mehrere Geflüchtete getroffen, die mir ihre Verletzungen zeigten. Offenbar misshandeln die ungarischen Einsatzkräfte die Menschen. Sie werden geschlagen, man hetzt Hunde auf sie. Berichten zufolge wurden Geflüchtete bei Minusgraden gezwungen, die Klamotten auszuziehen. Danach hat man sie mit Wasser übergossen und dann ohne Kleidung zurück in den Wald nach Serbien abgedrängt. Diese Misshandlungen finden auf Boden der EU statt. Dazu darf die EU nicht schweigen. Das muss untersucht und sanktioniert werden. Wer hier wegschaut, macht sich mitschuldig.

Selbst die Afghanen, die es nach Deutschland schaffen, sind nicht sicher, wie die jüngsten Abschiebungen beweisen. Ist das den Flüchtlingen in Belgrad überhaupt bewusst?
Ja, es gibt einen regen Informationsaustausch über Handys. Wir haben mit einem Geflüchteten gesprochen, der war Offizier in der afghanischen Armee und hat mit den deutschen Truppen kooperiert. Dort, wo er lebt, dominieren die Taliban. Es war klar: Wenn er nicht geht, wird er umgebracht. Ich habe auch mit einer Familie gesprochen, die mit ihren drei kleinen Jungs im Alter zwischen drei und sieben Jahren tagelang ohne Essen zu Fuß marschiert ist. Die haben das ja nicht aus Jux und Dollerei gemacht, sondern weil es Morddrohungen gab. Die können nicht verstehen, warum Menschen nach Afghanistan abgeschoben werden.

Werden die Geflüchteten in Serbien gut behandelt?
Serbien will beweisen, dass es ein würdiger EU-Kandidat ist. Als 2015 die deutsche Regierung die Menschenrechte hoch hielt, unternahm die serbische Regierung alles, um die Menschenrechte von Geflüchteten zu wahren. Nun, wo deren Stellenwert im Herzen Europas in Frage gestellt wird, orientiert sich auch die serbische Politik um. Wenn in Deutschland Politiker die Geflüchteten pauschal zum Problem erklären, verschärft sich auf dem Balkan der Druck auf die verzweifelten Flüchtlinge. Wenn in Deutschland der Stellenwert von Menschenrechten in Frage gestellt wird, befördert das, dass am Rande Europas die Menschenrechte mit Füßen getreten werden. Hier sieht man, wohin das Gerede von Obergrenzen führt. Wir haben eine große Verantwortung.

Serbien ist ein armes Land, aber obwohl es an Geld fehlt, hilft die Zivilgesellschaft. Viele hier wissen aus dem Jugoslawienkrieg, wie es ist, vertrieben zu werden oder das eigene Land verlassen zu müssen.

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